Stand vom: 24.1.05





Rainer Feig









Zum Trotz









Diese Episoden-Sammlung ist weder als Biographie noch als Familiengeschichte angelegt, sondern allein als Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR der Zeit von 1955 bis zum 15.3.1990. Die Einschränkung auf die Erlebnisse kann ganz gewiß keinen repräsentative Darstellung erlauben, sondern nur Streiflichter daraus. Für diesen Spalt aus der Gesamtwirklichkeit sichert diese Episoden-Sammlung immerhin Objektivität, soweit das am Beispiel einer Person möglich ist.


Beschränkungen im Bildungssystem der DDR für jene, deren Eltern irgendwann einmal selbständig waren, gaben den Ausschlag für ein Trotzverhalten - „Nun gerade!“ Dabei ergab sich für einen Fall ICH eine Reihe von Episoden, die nachfolgend aufgeschrieben sind.











START:


Inhaltsverzeichnis:


Auf Erkundungstour

Klassenlehrer Götze

Mathe-Lehrer Hupke

Fachzeichnen-Lehrer Wolf

Fachkunde-Lehrer Kaulisch

Apfelkauf

2000km-Radtouren

Fleischermeisters Sohn

"Mit der FDJ im Freundesland"

Spänefahren

Fahrschule

Tanzstunde >> Tanzstunde

Besuch in der RATTE

Das STERN-Kofferradio

Spuren der Vergangenheit

Busfahrt Berlin-Schönefeld

MMM = Messe der Meister von morgen

Blutvergiftung

Kampf um Studienplatz

Tausendjähriges Wissen nutzen?

Werbetour für LPG

"Volksarmee"-Werbung

Der Kampfgruppenkommandeur

Westkontakt im ASTORIA

Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaft

An der ABF >> ABF

Sozialistische Aktion

Mathematik an der ABF

Physik an der ABF

Deutsch an der ABF

August 1961 – Mauerbau

Eis- und Rollsport

Der Stasi-"Held"

Von den Landesbühnen zur Staatsoper

Fachstudium - Analysis

Experimentalphysik

Pädagogik >> Pädagogik

Ferienlager-Betreuung

Theoretische Physik

Gesellschaftswissenschaften

Bei Frau Wirtin

In klassentreuer Runde

Zeitweilige Schwierigkeiten beim Aufbau des Sozialismus

Schulpraktika

Im Schuldienst

Beginn des Fernstudiums

SED-Wahlkampf in Westberlin

Passierscheinabkommen

Ältere Kassiererin verschwunden?

Der Einmarsch

Mutter >> Mutter

Ferienhaus am Werlsee

Beginn bei der EDV

Programmierung

Die Welt verändern?

Offizialverfahren

Prof. Schoppan: „Reichen Sie baldigst ein!“

Revolution oder Evolution?

Rechenzentrum Verkehrswesen Dresden

Hauptstadtkultur

Abschluß des Fernstudiums

Armeedienst

Urlaub mit Tochter in Altenberg

Kapitel V Vorwende

Zum Schwarzen Meer >> Meer

Die ungarische Art

Karl-Marx-Stadt / Chemnitz

An der Ingenieurhochschule Dresden

Feldberg

Stasi in der Mazurka-Bar

Mutter in Zschertnitz

Wohnungstausch Zwinglistraße nach Dölzschen

Gefährlicher PKW-Anhänger

Vom Böhmerwald nach Königsbrück

Transistor-Paul

BRD-Austellung in Dresden

Afghanistan

Neuer Chef

Roter Sekt >> Sekt

Vorahnung oder Gewißheit?

Auf eigenem Grund und Boden

Information über Profilierung kritischer Gruppen

Bulgarienfahrt 1989

Besuch aus Bulgarien

Erfolgreiches Promotionsverfahren

Neues Forum in Coswig >> Forum

9. November 1989 – Grenzöffnung

SPD in Dresden und Umgebung

Boots-Lehrgang

Besuche in Bochum

Gründung des SPD-Bezirksverbandes

Dresden/Sachsen-Ost

Der Militärstaatsanwalt am Runden Tisch des Bezirkes

Die Übergangszeit




Auf Erkundungstour


1955 begann ich eine Lehre als Metallflugzeugbauer in Dresden. Die Lehrwerkstatt war an der Straßenbahn-Haltestelle Meschwitzstraße – auf halbem Weg zwischen Stadtzentrum und Flughafen.

Lehrmeister Selms hatte uns eingeimpft, daß wir bei Wegen durch das Werksgelände stehlen sollten - allerdings nur mit den Augen! In die Hallen auf dem Flughafen kamen wir aber offiziell nicht hinein. Immerhin hatten wir einige Klassenkameraden, die mit ihren Eltern auf Spezialisten-Einsatz in der Sowjetunion gewesen waren. Die kannten sich aus, kannten sogar den Geheimcode, um in geheime Bereiche zu kommen - z.B. Attrappenbau.

Da die spanlose Formung von Duralblechen eine etwa halbstündige Warmbehandlung in einer speziellen Anlage erforderlich macht, nutzten wir – einige Lehrlinge – die Gelegenheit, bei dafür günstigen Aufträgen die Bleche kurz vor Abfahrt des Betriebsbusses in Richtung Flughafen abzugeben. Die Mittagspause eingeschlossen müßte es reichen, uns über den Montagestand des Versuchsmusters 1 des ersten Verkehrsflugzeuges mit Turbinen-Luftstrahl-Triebwerken der DDR zu informieren. Dazu sollte die Besichtigung der Attrappen für die 152-Nachfolgemuster kommen. Passend zur Rückkehrzeit des Betriebsbusses vereinbarten wir den Fertigstellungstermin in der Warmbehandlungsabteilung. Blechabgabe und Bushinfahrt verliefen planmäßig. Im Flughafengelände bekamen wir erstmals einen Eindruck vom Ausmaß der Werkhallen, der modernen Werkzeugmaschinen, von den Attrappen für die in Planung befindlichen Flugzeuge und von dem Ausmaß der in der Endmontage befindlichen "152". Als ich durch den Bugfahrwerksschacht nach oben sah, erstarrte ich: übermannshoch die Bodenfreiheit und dazu der Rumpf mit 3,80 m Durchmesser. In dieser Perspektive und bei leerem Innenraum kam mir der Innenraum fast wie ein Konzertsaal vor. Danach fuhren wir wieder in das Industriegelände. Wir waren sorglos, weil wir alles, was wir uns vorgenommen hatten, geschafft hatten. Der Bus hielt an, und wer stand vor uns? Die linke Hand unseres Lehrmeisters, Herr Plettl! Anpfiff! Aber nach drei Tagen war der Sturm vorüber. Immerhin waren wir nur "stehlen".


Klassenlehrer Götze


Klassenlehrer Götze gab in unserer Klasse Geschichtsunterricht. Hatte er einmal von seinen U-Bootfahrten erzählt, so drängten wir ihn immer wieder dazu. So bestimmten wir das Unterrichtsthema des Tages im Fach Geschichte. Und das richtete sich stets an seinen Erlebnissen aus: Obwohl seine gesamte ältere Verwandtschaft kommunistisch eingestellt war, und er sich den Rücken seines Onkels nach dessen KZ-Aufenthalt ansehen durfte, hatte er sich in Faszination der U-Boottechnik freiwillig zur U-Bootwaffe gemeldet. Wir empfanden seine Ängste nach, die er erlitten hatte, wenn das Geräusch des Zerstörers stärker wurde, wenn Wasserbomben gefallen waren, wenn ins Ungewisse auftauchen mußte und dann die Zahl der heimkehrenden Boote von einer Feindfahrt zur nächsten immer kleiner wurde. Als er in Gefangenschaft gekommen war, mußten alle antreten und sich eine Rede auf Englisch anhören. Er verstand kein Wort. Als eine ihm unverständliche Frage gestellt wurde, antwortete er "yes". Auf die nächste Frage desgleichen. Man brachte ihn zur Arbeit in die Küche. Dort schloß man ihn ins Herz. Damit war für sein leibliches Wohl gesorgt.


Mathe-Lehrer Hupke


Es war wohl nach dem ersten Lehrjahr. Wir bekamen einen neuen Mathe-Lehrer. Die gesamte Klasse begeisterte sich für ihn. Das Warum war uns unklar - es klappte ganz einfach. Heute würde ich sagen: "Motivation vor jedem neuen Schritt." Eines Tages entschuldigte sich der Direktor für die Abwesenheit von Herrn Hupke, er würde jetzt am Windkanal arbeiten. Wiederum zwei Jahrzehnte später kamen Lehrer Hupke und ich gleichzeitig und für wenige Tage in ein dienstliches Verhältnis an der Ingenieurhochschule Dresden. Er ging wenige Tage nach meinem dortigen Dienstantritt in Rente. Ich berichtete meinen neuen Kollegen, daß ich meinen ehemaligen Lehrer Hupke im Hochschulgelände gesehen habe. Mit gequetschter Miene erfuhr ich von den SED-Genossen, daß Herr Hupke es hier als Parteiloser sogar zum Oberlehrer gebracht. Sonst war ja die "führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse" durchzusetzen. Es gab eben doch Wunder.


Fachzeichnen-Lehrer Wolf

Herr Wolf orientierte sich an den Erfordernissen des Berufes. Lt. Lehrvertrag hatten wir als Lehrlinge alles zu tun, um uns die Fähigkeiten und Fertigkeiten für diesen Beruf anzueignen. Herr Wolf stellte Aufgaben, die praxisbezogen waren, steigerte in vernünftigem Maße den Schwierigkeitsgrad von einer Zeichen-Aufgabe zur nächsten. Bleche sind vor dem Biegen bzw. Kanten zuzuschneiden. Darum muß der Zuschnitt zusätzlich zu den Maßen des fertigen Teiles ermittelt werden. Das ist einzusehen. Lehrer Wolf machte einfach seine Arbeit und zwar gut. Das sicherte auch das Einvernehmen mit uns Lehrlingen.


Fachkunde-Lehrer Kaulisch


Herr Kaulisch hatte eine reiche Berufserfahrung. Neben seiner Flugzeugbauer-Ausbildung hatte er die Stufen der Segelflieger-Qualifikation erworben. Er kannte sich in den diversen Flugzeugzellen-Bauweisen ebenso aus wie in neueren Techniken der Hydraulik, der Fahrwerksfederung und -dämpfung sowie Triebwerken. Er war als Einflieger für Lastensegler eingesprungen. Er erzählte von einem Vorfall, der beinahe daneben gegangen wäre: Für die Höhenruderbetätigung gibt es i.a. keinen Ersatz. Einmal hatte er es erst nach dem Start bemerkt, daß das Höhenruder nicht angeschlossen war. Die Wirkung der Trimmung ist wesentlich geringer. Aber er hatte es geschafft, ohne intakte Höhensteuerung wieder unversehrt auf den Boden zu kommen – allein mit der Trimmung. Auf unsere Frage, ob nicht Wasser eine weiche Landealterative in diesem Fall gewesen wäre, hob er beide Hände. Nein nur das nicht! Lieber bei defektem Fahrwerk dieses eingefahren lassen. Eine Bauchlandung biete mehr Sicherheit, die eigene Haut zu retten. In den letzten Kriegsmonaten war er Jagdflieger auf Me 163, einem weitgehend aus Holz gebauten Raketenflugzeug, gewesen. Damit sei man vor Ankunft eines gegenerischen Bomberpulks auf 10.000 m Höhe gestiegen. Mit abgeschaltetem Triebwerk habe man im Gleitflug auf den Pulk gewartet. Der Treibstoff habe dann nur für wenige Minuten Einsatzzeit gereicht. Zwei Abschüsse durch jedes der eigenen Flugzeuge habe bei der Größe der gegnerischen Luftflotten keine für das Ganze merkliche Wirkung gebracht. Solche Berichte über die letzten Kriegsmonate beeindruckten unser Geschichtsbild nachhaltiger als die damals in der DDR üblichen und täglich unveränderten SED-Parolen. Und aus dem gleichen Mund hörten wir dann Beschreibungen zur Funktionsweise von Hydraulikanlagen im Flugzeug, über Rudergewichtsausgleich, Kraftverstärkung, Verfahren der spanlose Formung, Chemisch-Abtragen und Sandwich-Bauweise.


Apfelkauf


Während dieser Zeit fuhr ich eines Tages mit meiner Mutter nach Oberwartha, wo sich das obere Becken des hiesigen Pumpspeicherwerkes befindet. Oberwartha ist außerdem für Baumblüte und Obstanbau weithin bekannt. Meine Mutter hatte sich mit einem Kollegen vereinbart, der hier ein bergiges Grundstück mit etlichen Obstbäumen hatte. Meine Mutter kaufte für den gesamten Winterbedarf ein. Ich stand ja als Träger zur Verfügung. Zum Ende wurde noch ein Schwatz gemacht. Mutters Kollege war ein ganz überzeugter Genosse. Meine Mutter hielt sich gegenüber seinen Worten höflich bedeckt. Dafür kam ich an die Reihe. Er ließ einige seiner Theorien gucken. Dazu gehörte auch, daß nun den Bürgern mehr Demokratie geboten werden könne, weil man jetzt etwas aufbaue, was dann „Querulanten“ im Zaum halten würde. Das klingt ja fast nett?


2.000km-Radtouren


Auf größere Tour per Fahrrad ließen mich meine Eltern erst, als ich mir ein ordentliches Fahrrad erspart hatte. Das Lehrlingsentgelt belief sich auf 60 D-Mark im ersten Lehrjahr und bis zu 120 D-Mark im letzten Lehrjahr. So kamen die erforderlichen ca. 600 D-Mark zusammen. Bei der ersten Urlaubsfahrt ging es am ersten Tag in das Zittauer Gebirge, am zweiten in den Spreewald und am dritten nach Strausberg bei Berlin. Von dort ging es am nächsten Tag per S-Bahn in das Berliner Stadtzentrum. Die nächsten Tagesetappen verliefen über Bernau zum Müritzsee und dann über Schwerin nach Beckerwitz am äußersten Zipfel der Ostseeküste zur Westgrenze. Markant in Erinnerung blieben mir die dort häufigen feurigen Quallen. Weiter ging es ostwärts die Küste entlang. Auf dem Fischland gab es noch keinen Fahrweg. Mit meinen schmalen Sportradreifen und dem für drei Wochen vorsorgenden Gepäck half stückenweise nur Absteigen. In Stralsund übernachtete ich vor und nach dem Besuch von Rügen und Hiddensee. Stralsund imponierte mir wegen seiner gut erhaltenen mittelalterlichen Häuser. Auf Rügen war es der Fährhafen, der Kaiserstuhl, die Steilküste, Kap Arkona sowie die Wittower und die Schaproder Fähre, wo ich gerade auf die Sekunde noch die Fähre erreichte. Auf Hiddensee kehrte ich nördlich von Kloster nach einem Bruch der Tachohalterung um. So kam ich rechtzeitig zur wohl letzten Fähre in Richtung Stralsund. Die Bäder auf Usedom sollte ich in den folgenden Jahren noch öfter besuchen. Hierher war es von Berlin aus der kürzeste Weg zur Ostsee. Das Gebäude der Jugendherberge in Heringsdorf hatte bereits Maxim Gorki Jahre vorher Unterkunft geboten. In einer Herberge hatten mir andere Radwanderer von der Interbau-Ausstellung in Westberlin erzählt. Auf der Heimfahrt erreichte ich mein Tagesziel Oranienburg aber erst nach 22 Uhr. Ein Schäferhund verteidigte das Herbergsgelände. Also machte ich es mir trotz leichten Regens auf einem Gartenstuhl der nebenliegenden Gastwirtschaft gemütlich, nachdem ich alles Wärmende aus meinem Koffer aktiviert hatte. Die Dienste der Jugendherberge nahm ich dann doch nicht in Anspruch, startete nach sieben Uhr in Richtung Berlin und fuhr bei Schönholz in die Westsektoren ein. Kurz vor der Grenze fragte ich einen Volkspolizisten, was dort sei. Natürlich wußte ich, daß dort Westberlin begann. Er gab mir bereitwillig Auskunft. Damit war die Überfahrt ohne Risiko. Immerhin standen in der Dresdner Zeitung öfter Greuelmärchen darüber. Kann man dorthin fahren? "Aber klar!" Also los! Mitten in dem dortigen Verkehr verließen mich die Bremsgummis. Ich fragte mich bis zur Interbau-Ausstellung im Hansa-Viertel durch. Dort vertraute ich einem Wächter mein Fahrrad an. Nun will ich hier keine Zeilen einfügen, die in eine Bauzeitschrift gehören. Jedenfalls imponierten mir Größe, Aufmachung, Vielseitigkeit und Fachlichkeit dieser Ausstellung. Mit dem genannten Wächter kam ich am Ende ins Gespräch. Er war noch bis etwa ein Jahr vorher Polizist in dem von unserer Wohnung nur etwa fünf Häuser entfernten Polizeirevier auf der Roquettestraße gewesen. Auf dem Weg zum Potsdamer Platz kaufte ich Mitbringsel in einem Süßwarengeschäft ein. Nach der Begrüßung fragte ich: "Haben sie Schokolade?" Die eine Verkäuferin nickte der anderen zu. Diese hatte sofort erkannt, woher ich komme. Sie nannte mir eine mir unendlich erscheinende Kette von Firmennamen und zugehörigem Preis. Das waren für mich alles böhmische Dörfer. Ich sagte einfach: "Geben sie mir eine gute Mittelsorte." Die gleiche Tour für Kakao. Bezahlung erfolgte nach Tageskurs. Er dürfte etwa bei 1 : 4,3 gelegen haben. Dann habe ich alles Eingekaufte im Reisegepäck gut verstaut. Am Potsdamer Platz hielt mich ein Volkspolizist an und fragte, ob ich Waren für D-Mark der Deutschen Notenbank im Währungsgebiet der Bundesbank der Bundesrepublik Deutschland eingekauft und bei mir habe. Verdammtes Beamtendeutsch! Nun wollte ich nicht "ja" sagen, aber ein "Nein" könnte doch auch unangenehme Konsequenzen haben. Es dauerte einige Minuten, bis der Polizist etwas näher an das kam, was ich ihm hätte sagen müssen. In diesem kritischen Augenblick stand mir eine höhere Macht bei. Es begann zu regnen. Auf dem Gepäckträger hatte ich einen Koffer, aus dem seitlich die Wäsche herauszuquellen drohte. Mit Hinweis darauf beendete er sein Begehr. In Wirklichkeit wollte er wohl doch selbst nur trocken bleiben. Jedenfalls konnte ich bei meiner Ankunft zuhause per Begrüßung mitteilen, daß ich Schokolade und Kakao aus dem Westen mithabe.


Das andere Jahr ging es über Mylau/Vogtland ins Grenzgebiet nach Leutenberg. Als ich in einem Privathaus einen halben Liter Milch kaufen wollte, nahm mich die Frau aus dem öffentlichen Sichtbereich heraus ins Private. Sie fragte nach meinem Weg. Ich sagte, daß ein Schild umgelegt gewesen sei. Das beruhigte sie nicht. Ihr Neffe habe die Gültigkeit des Grenzausweises verstreichen lassen. Somit war er mit einem ungültigen Grenzdokument in die Grenzzone gekommen. Allein deshalb habe man ihn drei Tage auf dem Grenzkommando festgehalten. Als ich auf der Weiterfahrt einen Polizisten etwa 30 m vom Weg abseits mit einigen Bauern sah, habe ich nur geradeaus gesehen und kräftig in die Pedalen getreten. Über Gräfenthal, das Schwarzatal, die Wartburg und das Werratal ging es nach Mühlhausen/Harz. Eine hübsche mittelalterliche Stadt. Von dort unternahm ich nach einem Ruhetag einen Eintagesritt bis nach Erkner bei Berlin. Es ging nur deshalb so weit, weil die Jugendherberge in Brandenburg wegen Quarantäne gesperrt war. So kam es in 25 Stunden, wobei Pausen auch wegens Regens und Reparatur eingerechnet, zu immerhin 307 km. Mein Cousin hatte gerade in Berlin zu tun. So trafen wir uns auf dem Alexanderplatz. Er konnte mir immerhin etliche Fakten über Stadt und deren Menschen berichten. Anderntags war 1. Mai. Vom Berliner Dom aus besah ich mir die Spezifik des Aufmarsches in dieser Stadt.


Fleischermeisters Sohn


In Dresden-Briesnitz wohnten wir beim Fuhrunternehmen Hering im Haus. Rechts vom Haus war die Einfahrt, links die Ausfahrt und am Rande war Abstellplatz für die Pferdewagen. Im Parterre des Hinterhauses waren die Stallungen untergebracht. Platz, um an einem Tichschen bei gutem Wetter vor dem Haus zu sitzen, ggab es hier nicht. Wir fanden mehrere Alternativen. Eine fand sich bei einem Schachfreund meines Vaters. Dort waren wir häufig in der schöneren Umgebung von dessen Hausgarten eingeladen. Das war am Eingang des Zschoner Grundes. Die Männer spielten Schach, während die Frauen ein Kaffeekränzchen abhielten. Zuweilen kam auch der Bruder des Schachfreundes zu Besuch. Jener war Fleischermeister am anderen Ende von Dresden. Und dessen Sohn war nach dem ersten Lehrjahr aus der Feinmechanikerlehre in die Flugzeugbauerlehre umgesetzt worden. Ein Fahrgeld nach Berlin war für ihn kein Problem. Also fuhr er eines Tages mit einigen Kumpels per Bahn nach Berlin. Bei der Kontrolle in Schönefeld zur Einfahrt in den "demokratischen Sektor von Berlin" wurden die jungen Burschen gefragt, was ihr Ziel in Berlin sei. "Natürlich die Großbauten des Sozialismus auf der Stalinallee." Formal war gegen diese Angabe nichts einzuwenden. Der dümmste Polizist mußte merken, daß hier etwas im Busch war. Darum wurde eine Auflage erteilt. Sie sollten sich auf der Rückreise an gleicher Stelle melden. Natürlich fuhr die Gruppe über Ostberlin nach Westberlin. Wie aber die Kontrolle auf dem Rückweg umgehen? Am Strausberger Platz löste man für jeden eine Flugkarte nach Dresden. Der Zubringerbus umfuhr die Eisenbahn-Kontrollstelle in Schönefeld. Den Rest der Strecke flog man. Am nächsten Früh klingelte es bei jedem der Gruppe an der Wohnungstür. Pech für die Polizisten war, daß die Flugzeugwerke bereits um 5.45 Uhr mit der Frühschicht begannen. Die Strafe kam einen Tag später, aber sie kam. Jeweils einer von ihnen sollte an einem vorgegebenen Tag sich an einen vorgegebenen Tisch in das Cafe Prag setzen und mit einem ihm unbekannten Tischpartner ein Gespräch führen. Die Zeche war für umsonst. Das konnte man mit unserem Freund ein- und auch ein zweites Mal machen, aber beim dritten Mal saß er bereits im Zug nach Berlin, um Tage später Starfighters für den anderen deutschen Staat in Hamburg zu montieren. Er wäre bei der materiellen Grundlage seines Elternhauses nie in den Westen gegangen. Seine Eltern waren über seine Flucht todunglücklich. Meine Mutter sah bei späteren Treffen beim Schachfreund Fotos von besagtem Fleischermeisterssohn, der inzwischen im Kongo Flugzeugführer für eine dort kriegführende Seite war. Man sah im auf den Fotos an, daß dieser Dienst arbeitsmäßig und klimatisch anstrengend war

Letztlich arbeitete er als Transportflieger im Kongo, während eines Krieges um die Kupfer- und Urangruben im Lande, dem auch der Ministerpräsident Lumumba und UN-Generalsekretär Hammarskjöld ihr Leben opfern mußten.


"Mit der FDJ im Freundesland"


Eine Nachbarklasse war einmal samt FDJ-Sekretär zum Ausflug im Erzgebirge gewesen. Sie hatten so viel Positives über das Freundesland Tschechoslowakei gehört, daß sie beim Heidelbeerpflücken immer weiter dorthin vorankamen. Plötzlich waren sie von einem tscheschichen Grenzer gestellt. Während man sich über ein Ausbüxen hinter dem Rücken des Grenzers verständigte, wurden es immer mehr, von denen sie bewacht wurden. An den Händen gefesselt und die Augen verbunden kamen sie auf der Dienststelle der Grenzer an. Sie kamen in eine Scheune und wurden Schritt um Schritt besser versorgt, bekamen Zigaretten und konnten sogar ins Kino gehen. Dann kam die Übergabe an die sogenannte Deutsche Volkspolizei. Von da an gab es eine handfestere Behandlung. Immerhin kamen sie bald wieder frei. Trotzdem war der ganze Vorgang für die ganze Klasse ein bleibende Erfahrung, was doch die ständige Beeinflussung während kasernierter Abgeschiedenheit in den Köpfen ihrer Fast-Altersgenossen bewirken kann.


Spänefahren


Ich hatte die theoretische und einen Teil handwerkliche Segelflugausbildung absolviert, aber auf dem Flugfeld durfte ich gemeinsam mit einigen anderen für "Höherstehende" die Flugzeuge und Geräte auf das Flugfeld holen, betriebsbereit machen und nach jedem Flug per Kullerchen Flugzeuge an den Startplatz zurückbringen. Also beschwerte ich mich beim Lehrmeister und ging nicht mehr hin. Wie gut! Einige andere Lehrlinge hatten die gesamte Ausbildung absolviert.Das funktionierte nur, wenn man sich für etliche Jahre zur Armee gemeldet hatte. Zum Ausbildungsende sagten einige dieser Lehrlinge nun aber: "Alles nur Spaß!" Denn zumindest offiziell war der Militärdienst bis 1961 in der DDR noch freiwillig. Der Betrieb beantwortete das „Alles nur Spaß!“ mit der Herausnahme aus dem normalen Arbeitsprozeß und der Degradierung zum Spänefahrer. Die Jungs gaben nach einiger Zeit klein bei, durften wieder fliegen und nutzten das aus. So berichtete der Buschfunk. In der Folge gab es in den Westmedien einige Berichte über Landungen von DDR-Flugzeugen im Westen. Und bei uns mußten "sicherheitshalber" die Dresdner Flugsportler anstatt auf den Dresdner Elbwiesen dann in Riesa starten und landen. Bei der konzentrierteren Durchführung des Segelflugsports hatten die „zuständigen Stellen“ bessere Kontrollmöglichkeiten. Ein Feldtelefon war immer zur Hand, um ein schnelleres Flugzeug der „Sicherheitsorgane“ einem Ausreiser nachzusenden.


Fahrschule


Ende 1959 besuchte ich die private Fahrschule Melkus auf der Leipziger Straße. Der Name Melkus stand und steht noch immer für etliche Erfolge bei Autorennen und für die Modifikation des WARTBURG-Motors von 900 auf 1.000 ccm Hubraum und die Entwicklung einer zugehörigen Sportwagen-Karosserie. Diese private Fahrschule hatte etliche Motorradtypen im Einsatz - alte und neue. Am Tag der angesetzten fahrschulinternen Vorprüfung war Glatteis. Erst sollte niemand auf die Straße, dann nur mit Beiwagen und schließlich zusätzlich mit einem Solokrad, falls ich mich im Schul-Karree bewähre. Also Gas gegeben, zwei Mal hochgeschaltet, dann war die Geradeausstrecke zu Ende. Doch wo ist die Fußbremse??? Fußspitze etwas nach unten? Bei der NSU hinten oben, bei der AWO vorn oben, aber ich saß auf einer nagelneuen RT aus Zschopau!!! Mir haluzinierten schon Glassplitter. Ich blieb auf Geradeauskurs, bremste allein mit der Handbremse und stand mit dem Vorderrad schon voll in einer Hecke. Zwei Schritte rückwärts, ich stand wieder im erlaubten Bereich. Jetzt so tun, als sei nichts geschehen! Nun bemerkte ich, daß die Fußbremse das Einfachste der Welt war: Fußspitze etwas mehr senken! Ich durfte mit auf die Straße hinaus, durch die innere Neustadt und am arthesischen Brunnen vorbei.

>> START

Tanzstunde:

Tanzstunde


Werner und Elfriede Graf war die beste Adresse für die Tanzstunde. Grafs waren das damals einzige Paar im "sozialistischen Lager" mit der internationalen Tanzlehrerprüfung. Bei Vertragsabschluß für einen Kursus wurden die Termine mit vereinbart. Leider kam ich dann einige Male mit den Fahrschulterminen in Konflikt. Hatte ich einen Großteil des Kursus mit meiner Partnerin Roswitha bestritten, so waren bei meiner nächsten Wiederteilnahme nur zwei Tänze auf ihrem Kärtchen für mich noch frei. Bedauerlich! Immerhin ein hübsches, freundliches und manierliches Persönchen. Vom Tanzlehrer wurden wir über den Besuch im Elternhaus der Dame instruiert. Der Termin kam. Auf nach Radebeul. Orientierungspunkt Karl-May-Museum. Auf mein Klingeln öffnete die Tochter des Hauses. Also war es für sie die Gelegenheit, mich nach dem Teil ihrer Hausaufgaben zu befragen, mit dem sie Schwierigkeiten hatte. Neunte Klasse: Extremwerte und Differential. Beim besten Willen! Ich hatte darüber zwar ein paar Brocken aus Büchern mitbekommen, aber eine neunte Klasse hatte ich eben nicht besucht. Ihre Mutter hatte mit meiner Unbeholfenheit wohl Mitleid. Mittel- und Abschlußball fanden im Elbe-Hotel Demnitz statt. Das war zu jenem Zeitpunkt immerhin erstes Haus am Platze für die Tanzstundenbälle.


Jahre später hatte ich eines Tages bei der Abteilung Fernstudium der TU zu tun. Ein Aushang im gleichen Gebäude verzeichnete auf einer Prüfungs-Terminliste u.a. ihren Namen. Das war's!


Besuch in der RATTE


Bis zum Faschings-Dienstag hatte ich eine ordentliche Fahrerlaubnis. Als besonderen Geck nahm ich mir vor, mit dem Motorroller einige Dresdner Lokalitäten abzuklappern. Dazu gehörte auch die RATTE - die Radeberger Tanzgaststätte in einem Halbruinenhaus nahe beim Goldenen Reiter. Nicht gerade der beste Ruf. Dort wurde ich gleich am Eingang von einer "Dame" mit gläsernem Blick angesprochen. Da schüttelte es mich. Ich trat den Rückzug an. Mein Programm für diesen Abend verkürzte ich daraufhin drastisch.


Das STERN-Kofferradio


Dresden Rollsportstadion befand sich im Gelände des Rudolf-Harbig-Stadions. Als ich mir ein Kofferradio gekauft hatte, nahm ich es ins Stadion mit. Es war immerhin das erste in der DDR mit LW-, MW-, KW- und UKW-Teil sowie mit einem aufladbaren Akku samt Netzteil. Das war zu diesem Zeitpunkt in der DDR der neueste Stand. Mit dem elterlichen Vorkriegs-Radio, war das überhaupt kein Vergleich. Ohne jegliche Kenntnis über die Skaleneinteilung suchte und fand ich einen Sender mit guter Musik. Dann ging ich auf die Bahn, um mein Pflichtprogramm zu üben. Plötzlich rief der Vater eines jüngeren Läufers, ich hätte Pieschen drin. Na und? Mir war unklar, was er meinte. Eine Einstellung mit dem Dresdner Stadtteil "Pieschen" gab es an unserem häuslichen Radio nicht. Bei dem vierten oder fünften Ruf wurde mir klar, daß ich einen Westsender eingestellt hatte. Es war Radio Luxemburg! Also einen NATO-Sender, wie es damals hieß. Bevor es Ärger gab, war es ratsam, einen anderen Sender einzustellen.


Spuren der Vergangenheit


1960 oder 61 chauffierte ich eines Tages meine Mutter auf dem neugekauften BERLIN-Motorroller nach Oybin im Zittauer Gebirge und zum sorbischen Osterreiten nach Bautzen. Auf der Rückfahrt fuhren wir durch Sachsens Ort mit dem traditionsreichsten Truppenübungsplatz. Im Vorbeifahren sagte meine Mutter, daß sie hier auch einen Cousin habe. Wegen sehr unterschiedlicher politischer Orientierung hatte es jahrelang keinen Kontakt gegeben. Mit klopfendem Herzen klingelten wir am fraglichen Haus. Mutter und Tochter berichteten uns über die örtlichen und persönlichen Begebenheiten. Ein äußerlich konfliktfreies Treffen. Dabei blieb es allerdings auch. Die Sache hatte eben auch einen gewissen Beigeschmack. Immerhin war bekannt geworden, daß die Terrorakte der SA nie von den ortsansässigen SA-Leuten ausgeführt wurden, sondern von auswärtigen. Das war Prinzip, um "konsequente Durchführung" zu sichern. Von Meißen zu diesem Ort bestand genau eine solche Relation.


Busfahrt Berlin-Schönefeld


Als Exkursion fuhr unsere Klasse mit Lehrmeister und -ausbilder per Betriebsbus nach Berlin-Schönefeld. Am S-Bahnhof vorbei kamen wir zuerst an einigen Klinkersteinbauten vorbei. Im Hangar stellte man uns eine IL14 vor, deren Tragflächennasen im Ergebnis eines Sibirienfluges eingedrückt waren. Das war schon ein Wunder, wie man so noch fliegen konnte.


Dann fuhren wir zum Spionagetunnel Glienicke in der Nähe der nächsten S-Bahnstation. Neben der Straße ging ein Schacht in die Erde. Wir konnten nur in kleinen Gruppen hinunter. Wir sahen diverse Schaltanlagen, mit deren Hilfe sich die Amerikaner in die Telefon-Gespräche hatten einschalten können. Auf der anderen Seite der Grenze war im Tunnel nur gute Beleuchtung sowie eine weiße Wand und oben ein amerikanischer Posten zu sehen. Diesseits der Grenze Sandsäcke und zwei Posten mit Maschinenpistolen. Die angezapften Leitungen sollten bis nach Spanien gehen. Wer rief schon beim Generalissimo Franco an? Immerhin waren wir nur wenige Tage nach Entdeckung des Tunnels Augenzeugen desselben geworden.


Auf der Heimfahrt bog unser Bus ohne vorherige Ankündigung von der Autobahn ab. Unsee Begleiter hatten den Krieg stärker miterlebt als wir. Sie wollten uns auf dem deutschen Soldatenfriedhof bei Halbe auf dieses Ergebnis des Krieges hinweisen. In den DDR-Zeitungen gab es solche Hinweise nicht. Dafür fanden die Kranzniederlegungen an den sowjetischen Mahnmälern um so größere Beachtung.


MMM = Messe der Meister von morgen


Für die Lehrausbildung, die ich inzwischen absolviert hatte, fehlte ein ordentliches Fachkundebuch. Für die allgemeinen Metallarbeiten, für Schmieden, Schweißen und Warmbehandlungen gab es Fachliteratur, die jener anderer Berufe entsprach. Aber direkt zum Flugzeug fehlte überhaupt etwas. Nach Recherchen in vielen Literaturstellen, die die Bibliothek der Luftfahrtindustrie bot, erarbeitete ich ein Manuskript "Ein- und Aufteilung von Flugzeugen". Das Manuskript meldete ich für die Messer der Meister von morgen in Leipzig an. Es wurde angenommen. Der am Vorbereitungstag zuständige Beauftragte war sehr freundlich. Ein umfangreicher Text allein kann nur schwer Aufmerksamkeit finden. Darum komplettierte ich mein Objekt um ein Postermit einer von weitem auffallenden Vorderansicht der 152. Am Abend ging es ab Leipzig mit dem Fahrrad nach Hause. Am Tage der Ausstellungseröffnung beehrte man meine Arbeit mit einer Bronzemedaille. Damit war dem eigenen Betrieb, der leer ausging, der Daumen gezeigt. Für weitere Aktivitäten in dieser Richtung berieten und bestärkten mich zwei Ingenieure des Luftfahrt-Forschungs-Zentrums. Der eine mußte bei der Arbeit am Stehpult stehen – offensichtlich eine Kriegsfolge.


Blutvergiftung


Es ging auf die Sommerferien zu. Während wir im Warteraum zur Untersuchung für das Zeltlager warteten, sagte ein Lehrkollege, daß ich einen roten Strich am Bein habe. Ich dachte mir: "April, April!" Doch heimlich bemerkte ich dann doch, daß es nach Blutvergiftung aussah. Ich meldete mich, wurde fachgerecht versorgt, an den Hausarzt verwiesen und von dessen Urlaubsvertreter weiter behandelt. Der alte Sanitätsrat riet mir von Antibiotika ab, denn er habe schon so manchen Patienten auskurieren müssen, der sich bei der Behandlung durch andere Ärzte eine Medikamenten-Vergiftung eingehandelt hatte. Mit zwei Wochen Verspätung begab ich mich auf den Weg in die Sommerferien zum Müritzsee - per Fahrrad.


Kampf um Studienplatz


Die Ingenieurschule auf der Louisenstraße war unmittelbar den Flugzeugwerken unterstellt. Also malte ich mir Hoffnungen aus. Zum Tag der offenen Tür dieser Schule besichtigte ich die Sammlung von Flugzeugtriebwerken, darunter die Strahlturbine Jumo 004 sowohl aus deutscher als auch sowjetischer Produktion, sowie die Mororenprüfstände. Außerdem besuchte ich eine Unterrichtsstunde. Der Lehrer kam zum Ende der Stunde zu mir und fragte, ob ich denn so unvorbereitet auch etwas verstanden hätte. Einen Teil schon, war meine Antwort. Er freute sich und meinte, daß wir uns gewiß am 1. September zum Beginn des neuen Studienjahres wiedersehen werden. Der Antrag für die Ingenieurschule wurde wiederum abgeschmettert, obwohl ich einen einjährigen Vorbereitungskurs besucht hatte.


Ein halbes Jahr später ergab sich eine neue Gelegenheit – statt Fachschule eben Arbeiter-und-Bauern-Fakultät. Im Ferienlager kam buschfunkartig die Meldung auf, daß noch Plätze an der ABF frei seien. Während der Rückreise per LKW vom Müritzsee machten mir die begleitenden Lehrmeister Mut. Es wird schon klappen! Man hatte bereitwillig mein Fahrrad mittransportiert.Mir ging es nur um das Thema ABF. Doch tags darauf lehnte die Kommission meinen Antrag kurzerhand ab. Zu schlechte gesellschaftliche Arbeit, war das Argument. Ich entgegnete, daß ich auf der vorigen MMM eine Bronzemedaille erhalten habe. Ein Mitglied der Kommission wies mir eine vermeintliche Lüge nach, denn unser Betrieb habe bei der vorigen MMM keine Medaille erhalten. Man muß erläutern, daß üblicherweise die Betriebe als Ganzes auftraten. Ich konnte jedoch antworten, daß ich privat an der MMM teilgenommen hatte. „Privat?“ - großes Gelächter. Private Aktivitäten waren in einem sozialistischem System ihrer Meinung nach etwas ganz Ungebührliches. Mein Antrag war damit abgeschmettert!


Einspruch nicht möglich, weil das neue Studienjahr unmittelbar bevorstand. Wenn ich gewußt hätte, daß mein späterer Arbeitskollege Hartmut Schulz in seinem damaligen Wohnort Frankfurt/O einfach den Ring sprengte? Nach der Achtklassenschule setzte er sich am ersten Schultag ohne Probleme in die letzte Reihe.


Und nach dem Westen wollte ich als einziges Kind meiner Eltern auch nicht ausbüxen. Aber vorsichtshalber sammelte ich Tragflächenprofile. Die genauesten Angaben fand ich für Laminarprofile, die für langsame Kleinflugzeuge einen zu geringen Auftriebsbeiwert boten und außerdem eine hohe Oberflächengüte forderten, die ich in meiner Kellerwerkstatt wohl kaum schaffen konnte. Also blieb es dabei.


Tausendjähriges Wissen nutzen?


Eines Tages wurden wir zu einer Versammlung in der Werkhalle zusammengerufen. Als neuer AGL-Vorsitzender wurde uns der Obermeister Steffen vorgeschlagen. Warum gerade er? Warum gerade heute so unangemeldet eine Wahl durchführen? Das ging so plötzlich, daß ich nicht wußte, worauf man sich berufen konnte, um hierzu Näheres zu erfahren. Ein anderer Kollege stellte dazu eine Frage hierzu. Die Antwort war, daß es eine neue Vorschrift des Zentralkomitees der SED gebe, wonach ehemalige Pgs,wie sich die NSDAP-Mitglieder nannten, nicht mehr die Partei nach außen vertreten dürfen. Die Erfahrungen der ehemaligen PGs wolle man aber auch nicht vermissen. Darum solle der heutige Genosse Steffen den Abteilungsgewerkschaftsvorsitz übernehmen. Das Ding lag mir für quer. Aber verhindern konnte ich es nicht. Für jüngere Kollegen war die Vokabel PG ohnehin unbekannt. Die meisten anderen Kollegen wollten mit dieser heiklen Angelegenheit lieber nichts zu tun haben.


Werbetour für LPG


In der Berufsschule und anderen Stellen hatte man uns die Sinnhaftigkeit kollektiver Arbeit in der Landwirtschaft eingebleut. Aber von mehr oder weniger Zwang war da keine Rede gewesen. Es wurden öfter einmal Kollegen zusammengetrommelt, die aufs Land fuhren. Von meiner Priestewitzer Verwandtschaft erfuhr ich, wie das ablief. Ich wollte das auch mal sehen. Mit meinem Motorroller paßte ich nicht in den Bus, fuhr deshalb zum vereinbarten Zwischenstopp vor dem Rat des Kreises Meißen. Kein Bus? Also heimwärts! Meine Priestewitzer Verwandten schätzten einen Teil der Werber als ungefährlich ein. Die anderen Werber reizten dafür die Bauern zum Loslassen des Hundes, zum Verlassen der DDR oder zum Selbstmord. Eigene Anschauung von der Zwangskollektivierung blieb mir nach dem Verpassen des Busses jedenfalls erspart.


"Volksarmee"-Werbung


Bei einer der unproduktiven Armee-Werbe-Kommissionssitzungen brachte ich wieder vor, daß nach Verfassung der DDR jeder Bürger ein Recht auf Ausbildung habe. Dazu weitere Argumente. Einer der Kommissionäre lächelte ganz freundlich, als habe er mir ein tolles Geschenk für Geburtstag und Weihnachten auf einen Schlag zu überreichen: "Kollege Feig, sie können bei der Volksarmee eine vorzügliche Entwicklung nehmen." Dort gebe es viele Qualifizierungsmöglichkeiten. Aber alle Lockmittel waren ohne Garantieschein. Kurze Zeit später wurde die Wehrpflicht eingeführt und die ehemaligen Lockmittel verfielen ohnehin der ständigen Gefechtsbereitschaft. Die Möglichkeit, nach Vorbild des 17. Juni auf Befehl gegen meine eigenen Kollegen vorgehen zu müssen, bemühte ich mich so gut es ging zu umgehen.


Weil ich mich nicht kleinkriegen ließ, außerdem mir wohl jemand mein Berufen auf Verfassung und Gesetze der DDR als listigen Angriff ansah, organisierte man genau gegen mich eine besondere Aktion, die mit einer simplen Einladung begann. Ich solle doch mal ins Hansa-Haus, Zimmer xxx, kommen. Ich machte mich, ohne mir einer Schuld bewußt zu sein, auf den Weg. Neben dem fraglichen Zimmer stand ein Schild: "Beauftragter des Ministeriums für Staatssicherheit". Aha! Mein Klopfen hatte keinen Erfolg, denn beim Öffnen merkte ich, daß es eine gepolsterte Doppeltür war. Am Ende des länglichen Raumes stand neben dem Fenster ein Schreibtisch. Daran saß ein älterer Herr in Zivil. Ich grüßte und ließ ihn nicht zu Wort kommen. "Warum ich hierhergebeten wurde, kann ich mir schon denken. Es ist reine Schikane, wenn ich nicht mehr zu meiner arbeitsvertraglichen Arbeit komme." Und immer wieder berief ich mich auf die Verfassung und die Gesetze der DDR. Nach einer Viertelstunde Redens, bekam ich kaum noch Luft. Mein Gegenüber sagte nur: "Kollege Feig, sie können wieder an ihren Arbeitsplatz gehen. Die Sache hat sich erledigt." Ich hatte dann wirklich Ruhe. Ob mir das bei einem jüngeren Beauftragten, der sich üblicherweise noch Sternchen verdienen wollte, auch so gelungen wäre, ist fraglich?


Der Kampfgruppenkommandeur


Nach Abschluß der Lehrzeit arbeitete ich an einer 200t-Exzenter-Presse zur Herstellung von sechs Meter langen Schalenprofilen, die in den Tragflächen der "152" direkt unter die Beplankung kamen. Zumeist arbeitete ich mit Kollegen Umlauf zusammen. Dieser Kollege war der Kampfgruppenkommandeur des Dresdner Flugzeugwerkes. Er erzählte häufig von seinen Abenteuern als U-Boot-Fahrer. Sein Kommandant hatte die Mannschaft in den letzten Tagen des Krieges am Grönlandeis warten lassen. So war er nicht in den letzten Tagen der verlorenen Antlantik-Schlacht sinnlos verheizt worden. Als er dann in Hamburg Arbeit haben wollte, sagte ihm der Beamte, daß er für Kriegsverbrecher wie ihn als ehemaligen Maat der U-Boot-Waffe keine Arbeitsstelle habe. Umlauf griff - wie er erzählte - über den Tresen und langte ihm eine Kräftige. Später war er in der DDR bei der kVP und gehörte zu dem Kommando, das einen Minister zu verhaften hatte. Der Minister wollte sich der Verhaftung entziehen, stürzte sich entlang des Treppengeländers hinunter und erhielt von dem vor dem Haus wartenden SED-Genossen Umlauf eine MPi-Garbe. Das Leben wurde gerettet, aber das wars auch. Entsprechend war Umlaufs Meinung zu streikenden Studenten des Jahres 1953. Für Umlauf stand kurz nach der Wende eine Traueranzeige in der Sächsischen Zeitung.


West-Kontakt im ASTORIA


Das Dresdner Hotel ASTORIA war damals das Gästehaus der Stadt Dresden, aber zugleich öffentliche Gaststätte. Das ASTORIA befand sich zwischen Hauptbahnhof und der Fakultät Berufspädagogik am Weberplatz. Mit meinem Cousin vereinbarte ich einen besseren Ausgang - eben ins ASTORIA. Nach einem kleinen Aufenthalt im Restaurant gingen wir in die Bar. Neben uns waren zwei Plätze frei und dahinter saßen zwei junge Männer. Irgendwie kamen wir ins Gespräch. Nach einiger Zeit merkten wir, daß die beiden von drüben waren. Wir tranken einen auf die Einheit, bekundeten auf beiden Seiten, daß man den Umständen entsprechend zurechtkomme, aber die politische Lage Sorge bereite. Die Verunglimpfungen der staatlichen Vertreter gegenseitig sei gewiß kein Ausweg. Also allgemeine Bekenntnisse. Währenddessen ging hinter uns eine männliche Person vorbei und monierte, daß unsere Diplomaten mit dem Klassenfeind paktierten. Es war der Chefredakteur der Sächsischen Zeitung (Sanders?), den mein Cousin aus seiner ABF-Zeit in Dresden kannte. Daraufhin zahlten wir, verließen den Ort des Erwischtwerdens, suchten nun nach Mitternacht eine Alternative in Dresden und fanden nichts Passendes. Letztlich war am Taxi-Standplatz Hauptbahnhof ein lustiges Treiben mit Gitarrespieler im Gange. Dann sah jeder zu, daß er in seine Bleibe kam.


Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaft


Kurz vor Studienbeginn galt es, die 700 AWG-Stunden für die neue Wohnung zum Abschluß zu bringen. Mit meinem Achtklassen-Schulabschluß werde ich sicherlich zu tun haben, an der ABF alle Anforderungen zu erfüllen – auch ohne Baustunden. Vater schwerkriegsbeschädigt, Mutter über die 55, da bleibe nur ich übrig. Meine ca. 400 von den 600 Arbeitsstunden bei der Wohnungsbaugenossenschaft der Eltern mußte ich sinnvollerweise noch vor dem Studium bewältigen - zuletzt in bis zu 13-stündigen Tagschichten jeweils im Anschluß an eine Nachtschicht im Betrieb. So schlugen die Fahrzeiten zwischen Wohnort Briesnitz, Baustelle Nürnberger Ei und Arbeitsort Flughafen nicht so stark in die Bilanz ein.

>> START

ABF:

An der ABF


Etwa im Mai des Jahres 1960 stand eine Annonce in der Zeitung: Suchen Bewerber für das Mathematk/Physik-Lehrerstudium in Halle oder Potsdam. Dabei sei ein Abschluß der achten Klasse ausreichend. Da ich per Fahrrad beide Städte schon Kennengelernt hatte, ordnete ich die höchste Priorität der Stadt mit der besseren Umwelt – also Potsdam zu. Eine Antwort kam prompt: Alle Plätze besetzt, aber die Humboldt-Universität habe noch freie Plätze. Eine Aufnahmeprüfung war in Deutsch und Mathematik zu absolvieren. Die Bestätigung kam sehr schnell. Ein Delegierungsschreiben durch den Betrieb war nicht nötig. Ich berichtete das meinem Meister. Dieser hatte beim VEB SACHSENRING gearbeitet und bei der Karosserie-Entwicklung für den großen SACHSENRING seine Ungerechtigkeit erfahren. Besagter Meister jedenfalls meinte, wenn er mich ohnehin verliere, dann könne er mir auch noch eine Delegierung schreiben. So geschah es. Mit einer riesigen Bücherkiste fuhr ich nach Berlin zur Aufnahme bei der ABF. Am Abend brach ich zum Studentenwohnheim Biesdorf auf. Ich driftete in der Dunkelheit zu weit nach Süden ab, bog am Treptower Park nach der bulgarischen Botschaft,da linkerhand die Spree war, noch weiter nach rechts ab, rutschte aus und lag auf der Nase. Mit fremder Hilfe bekam ich den Motorroller wieder hoch und kam irgendwie zum Wohnheim. Es begann ein hartes Brot, denn zuerst war bis zum Sonderabitur ein Einjahreskurs zu absolvieren. Zuallererst kam die Frage nach der FDJ-Mitgliedschaft. Ich hatte vorsichtshalber nichts dagegen, v.a. wenn es um Jugend-Freizeitkultur ging. Nur - einen Mitgliedsausweis hatte ich nicht mehr. Also trat ich mal wieder ein. Als ich nach Jugend-Freizeitkultur fragte, erhielt ich Fehlanzeige. Als Antwort deutete man an, daß man mit uns "Höheres" vorhatte. Da die Funktionäre sich bei uns nicht mehr sehen ließen, verlief die ganze Kiste im Sand. Auch gut!


Von den Anfängern, die mit mir in dem Einjahreskurs an der ABF begannen, schafften es nach insgesamt fünf Jahren bis zum Staatsexamen nur etwa 20 %. In Mathematik war es Herr Illgner, der sich mit unserem zukünftigen Professor abstimmte, um das Bestmögliche herauszuholen. Und nach einiger Zeit fand ich heraus, daß ich nach fünf Praxisjahren finanziell wie ein Arbeiter-und-Bauernkind zu behandeln sei. Nach drei (eigenen!) Armee- oder Arbeiterjahren bekomme man zu 180,- Grundstipendium (plus 5,- D-Mark Berlinzulage) noch 50,- D-Mark Zuschlag und bei insgesamt fünf Jahren weitere 50,- D-Mark. Die Bearbeiterin in der Studienabteilung entschuldigte sich sogar noch, als ich den diesbezüglichen Antrag abgab. So kam ich bei etwas Sparsamkeit gut um die Runden, ohne meine Ersparnisse anzutasten. Mein Studienkollege Maltzahn bekam nicht einmal die Hälfte von meinem Stipendium. Sowohl Vater wie auch er waren Postangestellte. Nix Arbeiter! Nix Armee! Der Junge war doppelt gestraft. Und ein anderer fragte mich etwas später, warum ich derart viel bekomme. Ich antwortete, ohne mich umzudrehen, daß er nur fünf Praxisjahre brauche.


Eis- und Rollsport


Bei einem Berliner Sportverein hatte ich mich bereits kurz nach Studienbeginn angemeldet: Roll- und Eissport der Betriebssportgemeinschaft Elektroprojekt Lichtenberg. Der Kontakt zu diesem Betrieb sollte sich später doppelt auszahlen. Und die Sportfreunde ließen sich nicht nachreden, Sachsenhasser zu sein, sofern man selbst kein Öl ins Feuer goß. Ich war auch Aushilfsspieler beim Rollhockey. Nur konnte ich wegen meiner Hauptverpflichtung Studium keine Versprechungen für Auswärtsspiele abgeben. Dagegen agierte ich neben der eigenen Betätigung gemeinsam mit Werner Hegner als Übungsleiter. Einen Rittberger, Salcho oder einen Roberts konnte ich immerhin selbst vorstellen. Zu mehr kam es aber nicht - wegen der Hauptaufgabe. Auf der Griechischen Allee in Oberschöneweide und in der Wuhlheide ging es um Schnelllauf. Im Winterhalbjahr zogen wir oft in das Dynamo-Sportforum mit seinem Eisstadion in Berlin-Hohenschönhausen um. Wir hatten eine gute Verbindung zum dort heimischen Sportclub und den Trainerinnen Giebelmann und Wischnewsky. Frau Giebelmann sagte beim bekanntesten DDR-Sportreporter H.-F. Oertel life in das Fernsehmikrofon, daß die DDR-Sportler deshalb höhere Ziele erreichten, weil sie durch die Möglichkeit motiviert würden, in andere Länder reisen zu können, wohin die anderen nicht kämen. Das war für den Staat DDR schon eine Provokation. Allerdings war diese so dosiert, daß es für Noch-Trainerin Giebelmann keine unmittelbaren Folgen hatte. Als in der Zeitung stand, daß das Eislaufpaar Goebel/Ningel an Grippe erkrankt sei und deshalb nicht zu den nächsten internationalen Meisterschaften fahren könne, ergänzte sie uns gegenüber: " Ja, politische Grippe." Als Inge Wischnewsky die dreijährige Christine Errath bei ihren ersten Versuchen bei uns sah, erkannte sie deren Perspektive, sprach mit den Eltern und die Elevin war damit schon abgeworben.


Sozialistische Aktion


In dem Statistischen Jahrbuch der DDR hatte ich mir die Ergebnisse der letzten DDR-Wahlen betrachtet. Bei meiner Analyse fand ich heraus, daß der (ursprüngliche) Ostableger der SPD bei Wahlen in Ostberlin noch mit Stimmen bzw. lt. einer früheren Wahl mit Sitzen bedacht wurde: die Sozialistische Aktion. Ich fand (sicher über das Telefonbuch) die Adresse des Parteibüros heraus. Daraufhin bin ich mehrfach um das Gebäude an der Frankfurter Allee (damals noch Stalinallee) / Ecke Lebuser Straße herumgegangen. Die Fensterläden waren unten. Seltsam! Wurde ich beobachtet? Ich ließ es lieber sein, denn ich hatte meine Hauptaufgabe! Das Studium! Nach Großmutters Meinung: Wissen ist Macht!


Flugtechnik-Manuskript


Für die Teilnahme mit einem Ausstellungsobjekt an der Berliner Neuererschau in der Sporthalle auf der damaligen Stalinallee (heute: Frankfurter Allee) hatte ich mich bereits vor dem Studienbeginn angemeldet. Mein Thema war eine etwa hundertseitige Ausarbeitung über die "Einteilung und Aufteilung von Flugzeugen" - als Hilfe für den Berufsschulunterricht der Metallflugzeugbauer-Ausbildung gedacht. Für das alljährlich erscheinende "Fliegerjahrbuch" war der Verlag "WIRTSCHAFT" verantwortlich. Also stellte ich mein Projekt dem Verlag „WIRTSCHAFT“ vor. Die Schreiben und Gespräche verliefen in einer aufgeschlossenen Atmosphäre, obwohl mein Manuskript noch keinen druckreifen Stand erreicht hatte. Diese Zuständigkeit für das Fliegerjahrbuch und folglich auch mein Manuskript wurde dann auf staatliche Weisung hin an den Verlag "TECHNIK" weitergereicht. Dort ließ man mich lange warten. Letztlich zog ich mein Manuskript zurück. Kurz danach gab über diesen Verlag ein Prof. Picht ein Buch mit dem Titel „Straßen der Zukunft“ heraus. Zwischen beiden Manuskripten stimmte kein einziger Satz wortwörtlich überein, wohl aber Zielstellung und die gesamte Herangehensweise. Für den Vorwurf des Abkupferns hatte ich keine Beweise. Aber warum hielt man mein Manuskript derart lange zurück, wenn man einen Konkurrenztitel vorbereitet?


Mathematik an der ABF


Mathematik ist eine wichtige Basis für viele andere Fachgebiete. Von der Experiment-Auswertung bis zur Beschreibung von physikalischen Lehrsätzen ist die Mathematik die wichtigste Grundlage der Physik. Herr Ilgner führte uns in den Oberschulstoff der Mathematik ein. Wir begegneten ihm später im Fach Mathematik-Methodik als Assistent an der Pädagogischen Fakultät wieder. Für unsere ABF-Zeit beschaffte er sich den Vorlesungsplan von unserem späteren Analysis-Professor, um für das nur eine Jahr, das bis zur Sonderreifeprüfung zur Verfügung stand, genau den Stoff zu ermitteln, der für das Fachstudium unverzichtbar und in dem einen Jahr vermittelbar ist. Außerdem orientierte er auf solche Komponenten, die auf der Grundlage des vorangegangenen Stoffes einsehbar sind. Er hielt sich und uns streng an die Schritte "Voraussetzung, Behauptung, Beweis" sowie die Schlußkennzeichnung "Was zu beweisen war". Er orientierte stark auf die damals an den Schulen noch neue Mengenlehre sowie an Folgen und Reihen mit Grenzübergängen. Extremwert- und Integralaufgaben waren dadurch weitgehend ohne Differential- und Integralrechnung möglich.


Physik an der ABF


Im Fach Physik unterrichtete uns Herr Resag. Um den Stoff plausibel zu machen, erfand er für die Formeln kleine Witzeleien. So gab er beispielsweise vor, den Herrn Alfonso Binomi persönlich zu kennen. Wenn aber bei der mündlichen Leistungskontrolle vom Studenten überhaupt nichts kam, dann stocherte er über die Plausibilitätshilfen nach, sah sich um, wem die Antwort auf der Seele brannte.


Herr Resag hatte nach eigenem Bekunden auf dem einzigen Kreuzer der Weimarer Zeit, dem Kreuzer Emden gedient. Es gab Anzeichen, daß er vor seiner ABF-Zeit an der TU Westberlin eine Lehraufgabe gehabt hatte. Er erzählte Einzelheiten von seinem Wohnort Strausberg. Ein Jugendlicher mit gleichem Namen und gleichem Wohnort soll wegen eines politisch motivierten Vorganges in einem Gerichtsbericht genannt worden sein, erzählten Studienkollegen. Nähere Einzelheiten blieben uns allerdings unbekannt. Trotzdem, bei Resag hatte ich einen Stein im Brett. Eine wohlwollende Abschlußnote war mir sicher.


Deutsch an der ABF


Im Ausgleich zudem guten Verhältnis im Fach Physik hatte ich in Deutsch Pech. Anfangs war ich auf Lehrerfragen hin der häufigste Redner, um mich dann etwas zurückzuhalten. Als Streber wollte ich halt nicht tituliert werden. Die schriftliche Prüfung brachte eine Differenz zur Vornote. Also kam ich in die mündliche Prüfung. Dort lautete die entscheidende Frage: "Warum hat der Held in Scholochows 'Ein Menschenschicksal' all die Strapazen ausgehalten?" "Weil er Kommunist war", konnte doch nur die einzig richtige Antwort sein! Das war mir zwar klar, aber dieses Zu-Kreuze-Kriechen ging bei mir einfach nicht. Schließlich wollte ich nicht Parteisekretär werden! Diese stille Verweigerung wirkte mit einer drastischen Notenabsenkung. Die Deutsch-Lehrerin entpuppte sich während der Prüfung restlos als Fanatikerin. Ob dies aus Überzeugung oder infolge Karrierestreben geschah, konnte ich nicht feststellen.


August 1961 - Mauerbau


Im Frühjahr 1961 wurde in privaten Runden häufig darüber diskutiert, ob die DDR die Grenze dicht macht. W.Ulbricht bemühte sich, diesen Diskussionen den Grund wegzunehmen: Die Bauarbeiter der DDR hätten genug damit zu tun, das Wohnungsbauprogramm zu erfüllen. Darum sei es unmöglich, eine Mauer an der Westgrenze zu bauen. Mein Studienkollege Peter Riemann kam aus Ludwigsfelde. Er berichtete von organisierter Fluchtbewegung, bei denen es sogar gelang, Kühlschränke auf die andere Seite zu bringen. Da der Bau der SPUTNIK-Bahn rings um Westberlin eine Anzahl Arbeitskräfte auch aus Ludwigsfelde brauchte, waren Verlauf, Materialmengen, Bauintensität und vor allem der offensichtliche Zweck dort bald in aller Munde. Andernorts fuhren die Straßenbahnen sprichwörtlich auf dem Straßenpflaster, was natürlich eine volkstümliche Darstellung für einen doch prekären Zustand war. Wenn für die SPUTNIK-Bahn plötzlich Schienen im Überfluß verfügbar waren, dann mußte doch etwas im Busch sein.


Mit meinem Stipendium kam ich gut um die Runden, ohne das Sparbuch anzurühren. Damit war es kein Problem, nach bestandener Sonderreifeprüfung im Juli 61 für einige Tage nach Lubmin an die Ostsee in die dortige Jugendherberge zu fahren. Nur für wenige Tage – dann war Zeugnisausgabe an der ABF. In Vorahnung der Grenzschließung fuhr ich nach Erhalt des Sonderreifezeugnisses mit der S-Bahn zum Bahnhof Zoo und lief kreuz und quer durch Westberlin, bis ich irgendwie im Dunkeln wieder im Ostsektor ankam, von wo aus man mit Ostgeld per S-Bahn nach Biesdorf kam. Es war der letzte Westberlin-Ausflug vor einer langen Pause. Immerhin hatten wir uns in dem ABF-Jahr oft nach Erledigung unserer Aufgaben noch um 21 Uhr per S-Bahn auf den Weg zu Berlins Prachtmeile, den Kudamm, gemacht. Wie lange würde es noch gehen?


Ab 1. August wollte ich mir in meinem ehemaligen Betrieb etwas dazuverdienen. In einer Mittagspause sagt jemand, daß eine TU104 über das Rollbahnende hinausgerollt sei. Ich fuhr dorthin. Wahrhaftig, das Flugzeug stand im Acker. Erst kürzlich sprach ich den Piloten dieses Ausrutschers, Herrn Güttel. Eines der für ein gleichmäßiges Anliegen der Bremsbeläge sorgenden Bremsschläuche war defekt gewesen. So konnte er auf die Pedale drücken, wie er wollte – ohne Wirkung. Man zog das Flugzeug mit einem Traktor aus dem Acker, reinigte es und dann wurde wieder geflogen – auch im Streckeneinsatz der CSA. Dieser Flugzeugtyp war sehr robust. Die Außenhaut war teilweise sogar mit Trapeznieten genietet, was nach deutschen Vorstellungen für ein so schnelles Flugzeug eine Unmöglichkeit darstellte.


Ein anderes Mal frühstückte ich vor dem Hallentor mit Blick zur Landebahn. Von rechts schwebte lautlos ein Flugzeug zur Landung ein. Erst wie es näher kam, bemerkte ich, daß es die zweite Version der 152 war. Ein bewegender Moment!


Noch bewegender war es am 13. jenen Monats. Wir wurden zu einer Kurzversammlung zusammengerufen. Man eröffnete uns, daß die Westgrenze geschlossen sei. Tage vorher hatten die Medien schon gegen die Ost-West-Berufspendler polemisiert – besser gesagt: gewettert. Jetzt hatte man uns voll im Griff. Die SED-Bonzen wollten uns bei Versammlung Glauben machen, daß von nun an mit der Wirtschaft der DDR bergauf ginge, weil die negativen Einflüsse des kapitalistischen Systems auf die DDR-Wirtschaft nun ausgeschlossen wären. Den Termin mitten in der Urlaubszeit hatte man mit Bedacht gewählt. Bei Semesterbeginn hatten sich zwei Studienkollegen die vollendeten Tatsachen am Potsdamer Platz angesehen. Sie blieben eindeutig vor der Absperrung, lehnten sich allerdings auf sie. Sie unterhielten sich über die beobachteten Einzelmaßnahmen. Plötzlich tippte je eine Hand auf ihre Schultern. Sie wurden abgeführt. Wenig später saßen sie im Keller des Ost-Berliner Polizeipräsidiums auf der Keibelstraße. Selbst ihre Schuhabsätze wurden auch innen untersucht, weil man darin verbotene Dinge vermutete. Es kam stets darauf an, an wen man gerade geriet. Sie hatten Glück im Unglück und kamen mit einem Schrecken davon. Ihre Personalien waren bei dem „Organ“ vorgemerkt. Einen weiteren Vorfall durften sie sich nun nicht mehr erlauben. So schüchtert man ein.


Die AWG-Wohnung meiner Eltern mußte in den nächsten Wochen fertig werden. Bekannte warnten uns, daß jetzt gewiß jene bevorzugt werden würden, die an der Grenze Dienst getan hätten. Unsere Wohnung war allerdings noch mit Ofenheizung. Großes Aufatmen – meine Eltern konnten noch vor Weihnachten ihre Neubauwohnung beziehen.


Eine Studienkollegin wohnte privat. Damit gab es eine einfache Gelegenheit, den Berlin-Besuch ihrer Schwester mit einer Tasse Kaffee im eigenen Quartier zu verbinden. Was beide nicht wußten: Frau Wirtin hörte mit. Die beiden Schwestern hatten Möglichkeiten zum "Abhauen" besprochen. Das reichte für die Verhaftung. Die Studienkollegin meinte danach selbst, daß sie nur wegen ihres Vaters - einem Chefarzt aus dem Bezirk Cottbus - so glimpflich davonkam: Ausperrung vom Studium und Arbeit bei einer Sparkasse.


Jeden Tag hörte man von neuen Erfindungen für Flucht-Verfahren. Wäre dieser Erfindungsreichtum volkswirtschaftlich genutzt worden, hätten wir den Westen überholt. Spaß beiseite! Es soll auch Menschen gegeben haben, die als erste Amtshandlung drüben ein Telegramm an ihren Betrieb im Osten losschickten, um an all das zu erinnern, was am nächsten Tag für die Arbeit wichtig war. Es waren also nicht nur Hallodrios, die bei Nacht und Nebel nach dem Westen abhauten und ihr ganzes Eigentum zurückließen. Der VEB Elektroprojekt Berlin (kurz: Elpro) hatte fast fünfzig Außenstellen im Berliner Stadtgebiet, v.a. Erdgeschoßwohnungen und ungenutzte ehemalige Geschäftsräume. 1961 verbreiteten sich so alle Varianten der Republikflucht über die teils grenznahen Außenstellen. Am Rande eines jeden Trainingsabends beim Sportverein Elpro wurde die neueste Variante des Abhauens nach dem Westen weitererzählt. Und ein kleines Mädchen plauderte das aus, was zu Hause erzählt wurde. Der Vater mit seinen Kollegen arbeitete an der Charité, konnte seine Arbeitsstätte aber nur über Westberlin erreichen. Also berichtete das Mädchen, daß man eine "Jungfrau" unten am Auto angebunden habe. Der Krug ging aber nur so lange zu Wasser, bis er brach.


Konnte es zum Erfolg führen, die Menschen mit Gewalt hier zu halten? Zugegeben, viele der neuen SED-Fürsten hofften jetzt auf größere Erfolge der "sozialistischen" Wirtschaft. Sie verurteilten ganz Westdeutschland als imperialistisch und damit als "faulend und absterbend". Wenn das neue System neue Werte verspricht, sich aber die Oberen selbst lebenslang zum Adel erklären, dann sind wir wieder im Feudalsystem. Kürzlich erst erlebte ich ein Eigenlob eines ehemaligen Strausberger Parteisekretärs (nach eigenen Angaben): Man habe vierzig Jahre mit Achtklassen-Absolventen die DDR regiert. Mein Kommentar dazu: Nach Klärung der Machtfrage wurden viele Menschen korrumpiert und andere drangsaliert. Am Ende war es eine Machtausübung gegen die eigenen Mitbürger. Das westdeutsche Treiben mit Globke und Filbinger veranlaßte viele Menschen im Osten weder dem einen noch dem anderen System zu trauen. Angeblich sollten wir vor dem Westen geschützt werden. Die Grenzverletzer kamen aber fast ausschließlich aus östlicher Richtung. Gelegentlich versuchte ein Betrunkener oder ein Ortsunkundiger den Weg von West nach Ost. Für diese Fälle war die Mauer eindeutig nicht gebaut. Fadenscheinige Argumentation war offensichtlich. Dsgl. die ach so humanen Abrüstungsvorschläge der Sowjetunion an die "Wettrüster" im Westen. Aber vom Betreten sowjetischen Territoriums, um die Umsetzung eventueller Abrüstungs-Verträge zu kontrollieren, hielt man nichts. Das änderte sich erst viel später.


Der Stasi-"Held"


Beim Warten auf die Bereitstellung des Zuges nach Dresden sah ich einige Male eine Gestalt – lang, Uniform, abstehende Ohren, für die er gewiß nichts konnte. Ein Merkmal für einen ehemaligen Lehrkollegen war es trotzdem. In der Lehrzeit hatten wir im ersten Lehrjahr einen gewissen Leppi. Er war kein schlechter Kerl, aber er bestand den Abschluß des ersten Lehrjahres nicht. Also versuchte er es einen Gang tiefer als Leichtmetallbauer für die Lohngruppen 3 und 4. Doch nach wiederum einem Jahr kam das gleiche Ergebnis. Meine Mutter hatte mir berichtet, wer in ihrer Zeit nicht mehr die Lehre packte, wurde Zwölfender bei der Reichswehr. Unser Freund meldete sich zur Volksarmee und nach der Grundausbildung ging er zur Staatssicherheit. Bei Treffen mit diesem oder jenem unserer Klasse, berichtete er von seinem unaufhaltsamen Aufstieg. Eines Tages erkannte ich ihn im Zug von Berlin nach Dresden in Zivil mit kleiner Ordensspange beim Gang durch den Zug. Ich hatte mir ein Buch zu Gemüte gezogen und tat so, als bemerkte ich ihn nicht. Er kam zurück, nahm Platz, wir begrüßten uns, und er erzählte von seinen Heldentaten. Mir war gleich aufgefallen, daß er einen Zeigefinger geknickt oder verkürzt im Verband hatte. Das ist eine ganz unübliche Art des Verbindens eines Fingers! Er berichtete, daß er am Potsdamer Platz in vorderster Reihe gestanden hatte, als Westberliner Rowdies mit Drahtscheren gekommen waren. Dabei war ein Zeigefinger zum Opfer gefallen. Bisher hatte er es zum Hauptmann gebracht. Nach diesem Vorfall hoffte er, weiter auf der Karriereleiter zu steigen.


Der Vater eines anderen Lehrkollegen war Chemiker. Der Sohn hatte wichtige betriebliche Dokumente seines Vaters kopiert, um daraus offenbar Geld zu machen. Leppi hatte ihn überführt und war darauf stolz. Inzwischen hatte besagter Chemiker-Sohn seine Haftjahre abgesessen. Auch über den weiteren Lebensweg anderer Kollegen der Lehrzeit wußte er genauestens zu berichten. Was er über mich wußte, erzählte er allerdings nicht.


Von den Landesbühnen zur Staatsoper


Ich wartete mal wieder auf dem (damaligen) Berliner Ostbahnhof auf die Abfahrt meines Zuges. Ausnahmsweise kam ich nicht auf dem letzten Pfiff zur Zugabfahrt. Auf dem Bahnsteig stand meine aus Dresden stammende Studienkollegin Renate Büttner, die ich wegen ihres guten Klavierspielens bewunderte. Renate unterhielt sich mit ihrer Cousine. Für die Fahrt nach Dresden gab Renate mir ihre Cousine in meine Obhut. Selbst blieb Renate in Berlin. Die Cousine war etwas älter als ich und hatte eine gewisse Laufbahn als Opernsängerin bereits durchlaufen. Sie schätzte sich selbst nicht als Meistersängerin ein, aber sie hatte mehr Partien in Bereitschaft als es andere Sänger üblicherweise haben. So hatte sie an diesem Tag in der Berliner Staatsoper ausgeholfen. Auf die musikalischen Künste ihrer Cousine angesprochen, meinte sie, daß diese zwar vieles formal spielen könne, aber es reiche nicht für eine Einfühlung in das Stück und damit nicht für die große Kunst.


Fachstudium - Analysis


In den ersten Tagen des Fachstudiums fanden zwei besondere Ereignisse statt: die Staatstrauer für Wilhelm Pieck und die Zuerkennung der Ehrendoktorwürde für amerikanischen Sänger schwarzer Hautfarbe Paul Robeson mit Aufzug der Professorenschaft in Talaren zwischen Universitäts-Hauptgebäude und Staatsoper. Dann kam der Ernst des Lebens.


Analysis-Professor Pirl fragte uns – d.h. einige ehemalige Einjahres-ABF-ler - nach einer der ersten Vorlesungen, ob wir von den Vorlesungen auch etwas verständen. Er sprach sehr würdevoll, war erst in den Dreißigern und hatte einen unheimlichen Leibesumfang. Als er unsere Nicht-ja-nicht-nein-Antworten richtig gedeutet hatte, gab er uns einen Hinweis, der von Herzen kam. Er habe um 1945 studiert, als es kaum Briketts und kaum Fettigkeiten gab. Bei dem Wort "Fettigkeiten" hätte ich ob seines Leibesumfanges laut herausplatzen können, aber ich biß mir von innen derart auf die Innenbacken, daß es weh tat. Jedoch, es half.


Die Analysis-Vorlesung fand jeweils mittwochs um 15 Uhr in einem Erdgeschoß-Hörsaal mit Fenster zur Mommsenstraße statt. Mittwochs war Wachablösung vor der Gedenkstätte neben dem Zeughaus für die Opfer zweier Weltkriege. Zwei Minuten zuvor kam die Formation mit Trari-trara durch die enge und damit an der Staatsbibliothek widerhallende Mommsenstraße; vornweg ein korpulenter Offizier, der sein Auftreten ganz ernst nahm. Von Professor Pirl kam während des Vorbeimarsches kein Wort. Wir hätten es ohnehin nicht verstehen können. Das leichte Schwankenlassen des Kopfes und sein Wutausdruck ließ seine Gedanken erraten.


Experimentalphysik


In Experimentalphysik gab es zu Anfang keine Vorlesungen, weil der West-Professor nicht mehr nach dem Osten kam. Die Wohnsitze der besseren Berliner Gesellschaft lagen halt traditionell am Wannsee. Der Ersatzmann war wohl über sein bestes Alter hinaus, regte sich zuweilen über die Disziplin auf, schrie und stürzte den ganzen Experimentiertisch entlang über die Mikrofonschnur. Da gab es lauthalses Gelächter. Selbst der unaufmerksamste Student wachte auf. Und der Professor schäumte vor Wut. Eine ideale Präsentation für eine verpatzte Unterrichtsstunde! Sein Laborant verfügte über einen unermeßlichen Reichtum von Experimentalaufbauten. Unter Hinweis auf Coriolis drehte sich sogar der ganze Hörsaal samt der Erde.

>> START

Pädagogik:

Pädagogik


In den pädagogischen Fächern gab es unter den Dozenten junge Hirsche, die möglichst oft das Adjektiv "marxistisch-leninistisch" benutzten. Statt dessen orientierte sich Prof. Lüning in der Entwicklungspsychologie an der Entwicklung des Kindes. Trotzdem muß man sagen, daß auch die jungen Hirsche die Reform-Pädagogik lobten. Man siedelte die Objekte nur dann in Westdeutschland an, wenn es nicht anders ging. Wesentlich offenherziger war man gegenüber dem schwedischen Schulsystem. Makarenko wurde zwar genannt, aber nicht tiefergehend analysiert. Das stand bei uns schon lange vorher auf dem Plan. Eine wirkliche Hilfe unter den östlichen Methoden war mir speziell in schwierigen Klassen die Lubliner Methode, die auf vorbereitete Tafelbilder, Folien, Geräteaufbauten u.ä. orientierte, damit man der Klasse ja nicht den Rücken zukehren mußte. Dompteure müssen ähnlich handeln. Gemeinsam für alle pädagogischen Fächer war, daß in der ersten Vorlesung noch alle 500 Studenten dem Vortragenden lauschten, in der fünften war es noch die Hälfte, und mit der Ankündigung, daß in diesem Fach nicht regelgerecht geprüft wird, ging es bis auf unter zehn Studenten.


Ferienlager-Betreuung


Zuerst stand für uns ein Kurs im Kreis Königswusterhausen am Frauensee an, um uns auf einen solchen Einsatz vorzubereiten. Zwei Musikstudenten begeisterten sogar unmusikalische Teilnehmer vom Volksliedsingen. Für das Baden wurden wir angehalten, prinzipiell vor und nach dem Baden die beteiligten Kinder durchzuzählen. Ein Bestandteil des Erste-Hilfe-Kurses sorgte für Aufregung: Wenn ein Kind zu ersticken droht, gibt es die Möglichkeit des Kehlkopfschnittes. Zwei junge Ärzte der Charité sorgten so für Höhepunkte mit ihrer Unterweisung.


Ernst wurde es für mich im Mathematik-Ferienlager am hölzernen See. Die mathematischen Stunden wurden von einem gestandenen Lehrer durchgeführt. Die Freizeit-Gestaltung und die Aufsicht beim normalen Tagesablauf waren Aufgabe von uns Studenten. Ich hatte als Gruppenleiter Schüler aus Ost-Berliner fünften Klassen zu betreuen. Darunter war ein Stefan Töplitz. Ein Wirbelwind! Ohne eine Minute Ruhe ging es bei ihm bis nach Mitternacht. Gingen andere Gruppenleiter nach 22 Uhr zum Baden, nachdem im Zelt ihrer Gruppe Ruhe war, so war ich noch voll eingespannt, falls ich keine Aufsichtspflicht-Verletzung begehen wollte. Eine Wanderung am Fluß Schmölde entlang sollte der Beruhigung dienen. Beim Anblick einer Kirche entlockte Stefan seinem Mund recht kirchenfeindliche Formulierungen, die ich lieber hier nicht angeben möchte. Dabei wußte ich, daß ein Herr Heinrich Töplitz Präsident des Obersten Gerichtes der DDR und gleichzeitig Präsidiumsmitglied der CDU war. Das "C" soll für "Christlich" stehen! Am nächsten Sonntag fuhr ein Tatra-PKW vor. Heinrich Töplitz mit Frau und Tochter besuchte unser Ferienlager. Er sprach mich sehr freundlich an - immerhin war ich nur ein Student. Ich merkte, mein Gegenüber war ein gestandener Mann. Auch als er zwei Tage vor dem Ende des Ferienlagers kam, um seinen Sohn wegen eines eigenen Urlaubsplatzes abzuholen, fragte er mich auf eine solche Art, als wäre ich der Schuldirektor.


Unmittelbar neben unserem Mathematik-Ferienlager wurde ein internationales Ferienlager durchgeführt. Vor Beginn dieser Aktion wurden wir nicht gefragt, wie es mit unseren Fremdsprachen­Kenntnissen steht. "Rein zufällig" setzte man hier einen unserer Studienkollegen ein, der SED-Parteimitglied war. Sicher ist sicher, hatte man sich bei der Planung gesagt. Am vorletzten Tag standen etliche französische Kinder vor einer Waldbrand-Warntafel und zuckten mit den Schultern. Ich erklärte: "Attention, le feu!" Belustigt zog die Gruppe von dannen. Am Abreisetag tauschte ich mit Brigitte aus Aubervilliers bei Paris die Adressen aus. Wir schrieben uns bis nach dem Ende des Studiums. Dann wurde mir die Sache zu heiß. Es wurde bei uns zu stark vor Kontakten mit Bürgern aus "NATO-Staaten" gewarnt. Immerhin hatte ich noch eine Hauptaufgabe vor mir.


Theoretische Physik


Dozent für Theoretische Physik war Dr. Täubert. Er hatte ein Buch über Elektronenphysik veröffentlicht, fuhr öfter zu Tagungen in den Westen und bot mir zum Staatsexamen ein Flugzeugbauthema an: "Aushärtungserscheinungen bei Al-Zn-Mg-Legierungen". Bei einer der Absprachen zu diesem Thema wies er kurz auf ein Prospekt von Maiami. Auf die Schnelle bekam ich den Unterschied zu dem Wort Mamaia nicht richtig mit. Dr. Täubert fragte mich, ob ich dort hin fahren möchte. Nach diesem kurzen Blick auf das Prospekt hatte ich keine Basis für ein klare Antwort. Die Frage war aber nicht sonderlich ernst gemeint.


Am Tage der Prüfung war Dr. Täubert gerade auf dem Operationstisch: Blinddarm. Meine von seinem Assistenten ermittelte Note war entsprechend meines wahren Leistungsstandes wirklich nicht besser als eine Drei. Als der Chef wieder auf Arbeit kam, änderte er die Note in eine Eins. So ist es auch ungerecht! Aber ich habe gekuscht.


Immerhin wurde die Zahl jener Studenten, die aus dem ABF-Kurs stammten, immer geringer. Nach fünf Jahren blieben ganze 20 % übrig. Unter den 80% war auch ein DEFA-Regiseur, eine junge Frau mit Kind, ein ehemaliger Volkspolizist, der es nach Einsatz in den letzten Kriegswochen und 12 Dienstjahren bei der Volkspolizei versuchte, sowie ein Dreher aus der Automobilstadt Werdau. Gemeinsam mit einem Vollabiturienten kaufte sich letzterer nach Lehrveranstaltungsende auf dem S-Bahnhof Friedrichstraße eine "Berliner Zeitung am Abend". Während der Fahrt nach Biesdorf versuchten beide das obligatorische Kreuzworträtsel zu lösen. Verlief dieser Versuch ohne Erfolg, taxierten sie für diesen Tag ihr Können mit Null. Damit meinten sie, daß es an diesem Tag keinen Zweck habe, sich zu bemühen. Nach vielen solcher Tage, mußten beide das Studium aufgeben. Schuld war der zu hohe Schwierigkeitsgrad der Kreuzworträtsel in der BZA! So ihre Meinung!


Gesellschaftswissenschaften


Im ersten Studienjahr wurde die Vorlesung zu diesem Fach von Dr. Wenzlaff gehalten. Er bemühte sich, Erkenntnisse von Natur- und Gesellschaftswissenschaften zu verbinden. So fanden sich Fragmente der Maxwellschen Gleichungen und der Relativitätstheorie in seiner Vorlesung wieder. Das war ein Novum, denn bei anderen Marxismus-Lehrern wurden eins zu eins die vom SED-Politbüro abgesegneten Parolen hergebetet. Dann gab es den großen Krach. Prof. Havemann wurde von höchster Parteiinstanz in der Zeitung angezählt, er habe Erkenntnisse der (exakten!) Naturwissenschaften auf die Gesellschaftswissenschaften übertragen. Immerhin war Prof. Havemann als einziger Professor der Humboldt-Universität und der Charité in der Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum als Friedenskämpfer gewürdigt worden, der im Laufschritt von den Gummiknüppeln der Westberliner Polizei gejagt worden war. Außerdem hatte er im Zuchthaus Brandenburg am Tage der Befreiung 1945 in der Todeszelle verbracht. Nun eckte er als Renegat im Osten an. Und wenn die in den Naturwissenschaften erfolgreich zu Erkenntnissen führenden Methoden in den Gesellschaftswissenschaften angewandt werden? Jedenfalls bekam Prof. Havemann Hausarrest. Dr. Wenzlaff verschwand für uns Studenten von der Bildfläche. Jahre später tauchte der gleiche Name Dr. Wenzlaff in Fachartikeln über philosophische Betrachtungen von Fragen der Informatik wieder auf. Aber eben nur für die Informatik!


Bei Frau Wirtin


Im Studienjahr 62/63 wohnte ich - zumindest wochentags - bei der 70-jährigen Frl. Schönrock mit vier anderen Studenten in einem großen Einfamilienhaus – besser Villa genannt, denn die Räume waren mächtig hoch. Dieses Haus befand sich gegenüber der Polizei-Hochschule in Berlin-Kaulsdorf. Oft saß die gesamte Hausgemeinschaft abends bei Frau Wirtin vor dem Fernseher. Tagsüber kam es vor, daß die Wirtin vor dem Fernseher saß, ihre Freundin ein paar Handgriffe in der Küche erledigte und dann die Wirtin rief: "Hertha, komm mal rüber! Der schöne Mende ist im Fernsehen." Das war der damalige Vorsitzende der FDP. Als die Sondermeldung von Dallas über den Tod von Kennedy kam, war die Stimmung allerdings sehr gedämpft. Eine Hoffnung war für uns alle zerstört worden.


Eines Tages im Juni 63 war bei der Wirtin eine schlanke Frau im mittleren Alter zu Gast, das Gesicht etwas fahl und faltig. Sie hatte in Berlin einige Wege erledigt und war vor Jahren hier Untermieterin gewesen - vor genau zehn Jahren. Sie hatte 15 Jahre für das Verteilen von Flugblättern erhalten. Jetzt waren 2/3 vorüber. Das war genau das Maß, nach dem man bei guter Führung entlassen wurde. Sie hatte sich an einigen Stellen beworben. So auch am Theater in Meinungen. Auf ihren Hinweis, daß sie ihr Studium nicht abschließen konnte und sie einen besonderen Lebenslauf hatte, bekam sie als Antwort: "Das wissen wir! Gerade deshalb stellen wir sie ein!"


In „klassentreuer“ Runde


Ich wohnte meist im Studentenwohnheim Biesdorf. Insbesondere wenn ich den Motorroller mit in Berlin hatte, war es von dort zur Wohnung meines Cousins in Oberschöneweide nur ein Katzensprung. Dort trafen sich ehemalige Studienkollegen meines Cousins. Darunter waren auch solche, die das Studienziel nicht geschafft hatten und wegen des dringenden Bedarfs an jungen Diplomaten bereits Stellen in "aller Herren Länder" besetzten. Da waren zwei Mann in Indonesien an der Handelsvertretung. Handelsattaches zählten halt nicht zu den Gästen, die am Nationalfeiertag zum Staatsempfang eingeladen werden, aus der DDR gleich gar nicht. Und unter den Bedingungen der Hallstein-Doktrin brauchte man sich erst recht nichts einbilden. Die beiden fuhren aber doch zu dem Termin hin, reihten sich in die Reihe der Botschafter ein und wurden so vom Staatschef begrüßt. So zumindest der Bericht der beiden.


Ein anderer hatte eine Funktion an der DDR-Botschaft in Peking. Bei einem dienstlichen Ausflug kam er zum ehemals unter deutscher Verwaltung stehenden Tsing-tau. Eine zweite Reise führte ihn zur Demarkationslinie in Korea. Er konnte sich sogar mit den amerikanischen Soldaten in Pan-mun-jong unterhalten. Wer hier stationiert war, war von allem zivilem Leben abgeschnitten. Das wirkte sich natürlich auf das Klima in der Truppe aus.


Dann war mal noch der Karl Seidel, später Abteilungsleiter Bundesrepublik im ZK, und berichtete, wie "heldenhaft" er sich am 17. Juni 1953 verhalten habe. Er hörte im Heimaturlaub eines Frühs vom Ausnahmezustand. Als kVP-Angehöriger machte er sich schnell reisefertig und ging zum Bahnhof. Da kamen ihm, dem „heldenhaften“ Vertreter der Arbeiter-und-Bauern-Macht, einige Arbeiter entgegen. Er zückte das Seitengewehr, drohte damit gegen die vermeintlichen Angreifer und ging rückwärts zum Bahnhof. So zumindest seine Schilderung.


Ein ganz anderer Typ war Manfred Uschner. Mit ihm fuhr mein Cousin in Fahrgemeinschaft lange Zeit von Berlin nach Potsdam-Babelsberg. Sie kannten sich vom Studium her. M. Uschner kam später in die Abteilung von Hermann Axen im ZK und war Verhandlungspartner von Egon Bahr. Auf mein Befragen erklärte mir Egon Bahr (ca. 1998) im Rahmen einer Buchlesung bei der Sächsischen Zeitung, daß er zu Uschner ein Vertrauensverhältnis hatte. Sicherlich unter Rückendeckung von Honeckers Aussage über "Teufelszeug" handelte Uschner mit Bahr so wichtige Verträge wie "Chemiewaffenfreie Zone in Europa", "Von atomaren Kurzstreckenwaffen freie Zone in Mitteleuropa" und "Kultur in der ideologischen Auseinandersetzung" aus.


Zeitweilige Schwierigkeiten beim Aufbau des Sozialismus


Eine Zeitlang gab es selbst in dem sonst bevorteilten Ostberlin Butter nur auf Einschreiblisten. Lebensmittel-Rationierung war ja offiziell aufgehoben. Mein Cousin Rudolf Köttnitz war mit einer kubanischen Delegation im besten Hotel Magdeburgs namens "Deutschland" untergebracht. Bevor die Gäste am Frühstückstisch erschienen,hatte Rolf als Vertreter des Außenministeriums die Tisch-Eindeckung geprüft. Urteil: Alles i.O.! Die Gäste kamen, setzten sich und begannen zu frühstücken. Dann erfolgte bei den Gästen fragendes Aufblicken, Verziehen der Mundwinkel und Schulterzucken. Die Ursache? Statt Butter hatte man Margarine serviert. Mein Cousin entschuldigte sich mit "zeitweiligen Schwierigkeiten beim Aufbau des Sozialismus". Als Aufpasser hatte das Außenministerium einen Genossen mitgeschickt, der des Spanischen nicht mächtig sein sollte. Aber diese Worte habe jener verstanden. Er erstattete Meldung. Glücklicherweise konnte der Chef die Sache abbiegen. Trotzdem ärgerlich! Etwas bleibt immer haften!


Schulpraktika


Mein Landschulpraktikum absolvierte ich in Zirchow, auf der Insel Usedom zwischen Heringsdorf und Wolgast gelegen. Ich kam dort um Tage verspätet an, nachdem ich auf der Hinfahrt in Waren am Müritzsee Station gemacht und mir dabei einen Ruhr-Verdacht zugezogen hatte. So schlimm war es zwar nicht, wenn aber ein Probe auf dem Weg zum Labor verloren geht, bedeutet das weitere Isolierung. Der Schuldirektor empfing mich am Tag meiner Ankunft mit Andeutungen über meinen Physik-Methodik-Professor Haspas. Über diese Andeutungen konnte ich mich nicht äußern, weil ich darüber einfach nichts wußte. Was für Lieder über Lust, Laune und Liebe ein Professor abends auf Dienstreise im Wirtshaus singt, ist nicht mein Bier! Prof. Haspas äußerte in Zirchow die Meinung, daß man für einen guten Unterricht keine Regeln aufstellen könne. Daran kann ich mich bis heute nicht anschließen. Jedenfalls war er Vorbild, wenn es um eine sinnbetonte Aussprache jedes Wortes ging. Allerdings wirkte seine übermäßige Akzentuierung schon fast lächerlich. Wenn man sich ein Zehntel davon angewöhnte, konnte das hilfreich für den Anfang als Lehrer sein.


Disziplinprobleme gab es in Zirchow einfach nicht. Die Elternhäuser hatten zu den Lehrern Vertrauen. Das konnte vereinzelt aber auch bedeuten, daß ein Hinweis vom Lehrer zu handfesten Folgen führte und damit nicht zu verantworten war, weil ein alkoholisierter Vater ungehemmt vorging. Die Aalfänger in Schaprode hatten halt ihre eigenen Eigenarten.


Das Stadtschulpraktikum fand für mich in Berlin an der Schule gegenüber des Spanienkämpfer-Denkmals am Friedrichshain statt. Am Ende meiner ersten nicht nur hospitierten, sondern selbst erteilten Unterrichtsstunde gab ich einem Schüler ein Mosaikheft zurück, das ich ihm wegen des Blätterns darin während der Unterrichtsstunde abgenommen hatte. Der Mentor merkte das in der Auswertung als Problem an, weil es ein Heft aus dem Westen war. Da ich solches nicht lese, kenne ich mich da nicht so aus, war meine Entschuldigung. Damit war das Ding vom Tisch. Außerdem hatte eine Schülerin, die direkt vor dem Mentor gesessen hatte, 72 Striche auf ein Blatt Papier gesetzt. Auf seine Frage danach war ich paff. Er klärte mich auf: Es war die Anzahl meiner "Ja", um mich zu vergewissern, ob mich auch alle verstanden hatten. Das durfte mir nicht wieder passieren! Das war aber nicht die letzte dumme Angewohnheit, die ich mir abgewöhnen mußte. Außerdem fand ich hier zwei Eleven vom Sport wieder. Die brachten kein Wort heraus, gaben sich am liebsten nicht zu erkennen. Der Mentor erzählte mir von einem Schüler in einer Nachbarklasse, der von den Lehrern getriezt wurde, weil sein Vater Pfarrer war. Doch eines Tages waren die Lehrer, die die Verursacher davon waren, diszipliniert und hielten sich an die DDR-Verfassung, die immerhin Religionsfreiheit zusicherte. Offenbar hatten Stolpe und Kirchen-Staatssekretär Gysi sen. miteinander gesprochen. Letzterer war damals Staatssekretär für Kirchenfragen.


Im Schuldienst


1965 war das Studium beendet. Erst als die Ferienzeit begann, erfuhr ich auf Nachfrage, daß man mich in Görlitz einsetzen wolle. Zwischenzeitlich hatte ich mich gekümmert und eine Stelle an der BBS = Betriebsberufsschule "Ernst Zinna" der Gasversorgung gefunden, die gegenüber des Ostbahnhofes ihren Platz hatte. Hier brauchte man mich wegen meiner Kenntnisse über die Wechselstromtechnik: komplexe Zahlen und Maxwellsche Gleichungen. Natürlich mußte ich mal wieder in die FDJ eintreten. Einen Blumenstrauß als zwanzig-millionstes Mitglied bekam ich nicht. Kurz danach war großer Aufmarsch: 7. Oktober. Dazu sollte auch eine GST-Motorrad-Formation in 16-er Reihe gehören. Jener Fachkundelehrer, Herr Dörendahl, der zugleich GST-Fahrlehrer war, wollte seine Fahrschüler nicht für "16 Mann in einer Reihe" ( und dann durch die Kurve) einsetzen. Er warb mich dafür. Weil es für FDJ-Hemd-Tragen zu kalt war, ging das ohne Ärger ab. Oft wurde ich am Tag vor einem staatlichen Feiertag aufgefordert, mir ein Blauhemd zu kaufen. Ich zeigte guten Willen. In der verbleibenden Zeit bis zum Feiertag fand ich kein entsprechendes Geschäft mehr. Tags darauf fragte keiner mehr danach. Also blieb es beim guten Willen. Und heute ist es zu spät, viel zu spät.


In einer Stahlbauer-Klasse gab es mit den 17/18-jährigen Bengels besondere Überraschungen. Eines Tages griff ein Schüler schlichtend ein: "Seid doch mal ruhig. Herr Feig wird Vater!" Seine Mutter arbeitete als Krankenschwester bei einem für sein Aufklärungsbuch weithin bekannten Frauenarzt an der Schönhauser Allee. Diese Klasse begann an diesem Tag mit dem Unterricht erst um zehn Uhr. Die fragliche Untersuchung war früh, als ich eine andere Klasse unterrichtete. So erfuhr ich von meiner Vaterschaft nicht erst zum Feierabend. Für mich galt es in dieser Situation, Ruhe zu demonstrieren.


Ein anderes Mal war die Stahlbauer-Klasse zur Begrüßung gerade aufgestanden und machte einen disziplinierten Eindruck. Als ich zur Begrüßung anhob, blitzte etwas durch die Luft. In der ersten Reihe sank ein Schüler nieder. Die beiden Nachbarn nahmen ihn unter den Arm, nickten mir zu, ich quittierte das kurz, und die Drei verschwanden in Richtung Sanitätsstelle im Nachbarbetrieb. Der Getroffene war SED-Genosse! Da hätte mir noch etwas blühen können. Einer der beiden helfenden Nachbarn war der Sohn des Testfahrers Gerd Salzmann. Vater Salzmann arbeitete für die Zeitschrift "Der deutsche Straßenverkehr". Wurfgegenstand war ein Span vom Langhobler mit etwa 5mm x 20 mm x 400 mm in Spiralform. Anruf beim Lehrmeister mit Antwort: Gegen jenen Lehrling liegt bereits ein ganze Liste voller Delikte vor. "Schreiben Sie uns noch über diesen Fall. Wir ergänzen dann die Akte mit Ihren Angaben."


Schüler Huste erschien eines Tages mit einem gut 20 cm großen Gekreuzigten, der am Halsband getragen wurde. Alle schauten gespannt auf mich. Sie wollten wissen, ob ich die Fassung verliere und die DDR-Verfassung betr. Religionsfreiheit verletze. Provokation ist alles! Diese Freude bereitete ich der Klasse nicht! Beim Einbestellen von Vater Huste erklärte dieser mir, daß er seit 1927 Mitglied der KPD sei und heute durch vielerlei gesellschaftliche Verpflichtungen in Sachen Erziehung den Faden verloren habe. Um welche gesellschaftlichen Verpflichtungen es sich handelte, sagte er nicht. Der Name Huste tauchte Jahre später nochmals auf. Der Name seines engsten Genossen stand sogar öfter im Zusammenhang mit M. Stolpe in der Zeitung.


Für diese großen Stahlbauerlehrlinge hatte ich mir zum Wandertag einen besonderen Leckerbissen ausgedacht: Fahrt ins Blaue mit Start am S-Bahnhof Tiefensee hinter Bernau. Die Strecke hatte ich vorher per Motorroller abgefahren. Die Mittagsgaststätte war an der richtigen Stelle. Am Wandertag ging es ab S-Bahnhof los. Nach 100 m fragten die Buben, wo denn nun endlich die Kneipe kommt. Wenn die gewußt hätten, daß ihnen noch 25 km bevorstanden, hätten sie sofort kehrt gemacht. Nach zwei Stunden kamen wir an die Mittagsgaststätte: Wegen Rohrbruch geschlossen! Ich fürchtete für einen Augenblick um mein Leben! Da liefen meine ersten treuen Verbündeten weiter. Einer nach dem anderen schloß sich an. In einen S-Bahnzug kamen wir am Zielpunkt Strausberg mitten im Berufsverkehr. Das war kein Problem. Die gesamte Klasse war geschafft und wollte nur noch heimwärts.


Zur Abschlußfeier wollte mir jeder dieser Klasse nacheinander ein Bier spendieren. Ob ich nach dreißig Mann mit je einem Glas Bier noch am Abend nach Hause gefunden hätte? Jedenfalls gaben sich die größten Lausbuben am Ende doch sehr verträglich.


Eine Betriebsschlosser-Klasse - Absolventen 8. Klasse - hatte ich im Sommer übernommen. Zu jedem Schultermin hatte ich gebeten, mir die Hefte mit den letzten Noten gegengezeichnet von den Eltern mitzubringen. Fehlanzeige! Jedes Mal das gleiche Theater! Doch es wurden von Mal zu Mal weniger Bummler! Nach Weihnachten wurde es ernst für die neuen Semesternoten. Dazu brauchte man halt das Notenheft. Zuletzt gab es noch zwei Bummler. Nun konnte ich zum letzten Sturm ansetzen: „Heute Abend 19 Uhr bei mir zuhause oder ich komme zum Hausbesuch!“ Punkt 19 Uhr und keine Minute früher kam einer und erfüllte sein Soll. Nach einer Sicherheit von zwei Stunden, die ich für Abendbrot u.ä. nutzte, startete ich per S-Bahn nach Königswusterhausen und weiter zu Fuß nach Bestensee. Dort draußen gab es kaum Straßenschilder und noch seltener Klingeln an den Häusern. Einen Menschen zum Fragen fand ich um Mitternacht nur noch in der Kneipe. Mit jedem Anlauf und Befragen dort kam ich dem Ziel näher, aber jedes Mal mußte ich zur Kneipe zurück. Dann fand ich im Dunkeln ein Schild mit dem Namen "Schulz". Ich klingelte. Eine ältere Frau klärte mich von dem über zehn Meter entfernten Fenster aus auf, daß ihr Sohn im Nebenhaus kein Namensschild habe. Ich dachte mir, es wird ein armer Kerl sein. Und eine Klingel hatte er auch nicht! Also packte ich weit nach Mitternacht Schneebälle und schoß sie auf die offensichtlichen Schlafstuben-Fensterläden. Kraftvoll öffnete der Hausherr das Fenster. "Ich hole gleich die Polizei!" Und ich zurück: "Ja bitte, aber geben sie mir erst das Zeugnisheft ihres Sohnes!" Antwort: "Herr Feig?" Das Fenster klappte zu. Der Hausherr holte mich vom Gartentor ab, sorgte sich, ob ich denn auch gemahlzeitet hätte, beorderte seinen Sohn herbei, erzählte mir von seinen Erlebnissen als Berufschul-Sportlehrer, gab mir das Zeugnisheft und brachte mich mit seinem Trabi zum S-Bahnhof KW, nachdem er es im fünften Anlauf von der Kellergarage die steile und zudem vereiste Auffahrt hinauf geschafft hatte. An diesem Tag ging ich "mit erfülltem Plan" bezüglich der Zeugnishefte zum Unterricht.


Im Unterricht total unauffällig war der Schüler Scheffler. Sein Vater war Hauptbuchhalter in einem keine 500 m von der Berufsschule entfernten Kfz-Zubehör-Betrieb. Ich versuchte immer wieder den Vater telefonisch zu erreichen wegen des x-ten unentschuldigten Fehlens seines Sohnes. Beim y-ten Gespräch versprach der Vater mir, daß er seinen Sohn früh mit zur Arbeit nimmt und bei uns vor dem Haus absetzt. Total sichere Methode! Meinte er. Vorher war der Sohn immer wieder bei seiner Mutter verblieben. Er hatte Krankheit vorgetäuscht. Aber nach Jahresfrist mußte man doch mal fragen dürfen. Erst wollte es der Vater innerfamiliär klären. Klappte nicht! Dann die Variante mit der gemeinsamen Fahrt. Lückenlos sichere Variante? Falsch gedacht. Nachdem der Vater seinen Sohn an der Haltestelle vor unserer Schule abgesetzt hatte, ging Sohnemann hinten um die Bahn herum und stieg in die nächste Bahn in Heimatrichtung ein. Erneut Anrufe. Der Vater ließ sich am Telefon verleugnen, weil er offenbar dachte, daß alles geklärt sei.


Als ich für einen Hausbesuch bei der Familie Hein klingelte, öffnete der Sohn, grüßte freundlich, wendete seinen Kopf in Richtung Wohnstube, rief mehrfach seinen Vater durch den offenen Türspalt und machte jedes Mal mit der freien Hand eine Drehbewegung. Obwohl ich längst mitgeschnitten hatte, welchen Sender man in Berlin am liebsten sieht, mußte ich warten, bis der Vater den Sender gewechselt und schließlich den Fernseher ausgeschaltet hatte.


Vom Physik-Vorbereitungsraum aus war auf der anderen Spreeseite ein großer Kohleverladeplatz. Eines Nachts hatten wir von dort mehrere etwa tennisball-große Stahlkugeln abbekommen. Was 100 m über den Fluß bis in den 4. Stock kommt, das durchschlägt auch zwei Fensterscheiben und hinterläßt noch im Holz einen deutlichen Eindruck. Die Kripo (oder war es das Organ) nahm den Sachverhalt auf. Sonst hörte ich nichts mehr davon. Gewiß hat die Grenze auch zu manch krimineller Handlung verleitet. Ich kann mir nicht vorstellen, daß mein Physik-Lehrer-Kollege Richter, mit dem ich den Physik-Vorbereitungsraum teilte, sich mit einem in Westberlin befindlichen Lehrling angelegt hätte. Politisch? Der Kollege Richter gewiß nicht!


Die Lehrerkonferenz hatte der Raucherei den Kampf angesagt, aber die meisten Lehrer rauchten selbst. Von wegen Vorbild! Das elementarste pädagogische Prinzip! Mit Fachkunde-Lehrer Dörendahl verstand ich mich so, daß wir gemeinsam den Rauchern in der Pause einen Besuch abstatteten. Die Toilettenverschläge dampften wie Schornsteine. Aber die Würde der Sitzung galt es doch zu wahren. Ein anderes Mal überquerte ich das Stahlgitter der an jedem Gangende je Etage befindlichen Brandschutztreppe. Dann stieg ich möglichst lautlos treppab. Plötzlich rasselten etwa fünf Schüler die Treppe hinunter. Im Erdgeschoß schlug hinter ihnen die Tür zum Speisesaal zu. Als ich betont ruhigen Schrittes im Speisesaal , saßen etwa 200 Schüler auf den Stühlen und blickten mir tief in die Augen. Eine Disziplin, als wären es Klosterschüler! Ohne zu rauchen! Ob noch ein Stummel in einer Hosentasche glimmte, untersuchte ich nicht. Schließlich ist die Würde des Menschen ... . Ich lächelte freundlich zurück und tat wie die Unschuld vom Lande.


Zuletzt betreute ich an der Berufsschule eine Klasse "Monteure für Turbine und Dampf". Hier ging es manierlicher zu. Als Zusammenfassung von Wandertagen fuhren wir in die Jugendherberge Tambach-Dietharz im Thüringer Wald. Wir waren kaum zehn Minuten in der Herberge, als sich schon eine Türklinke wie ein Propeller drehte. Ursache? Ein Lehrling war zuerst im Zimmer und hielt die Klinke fest. Der andere wollte hinein. Knacks! Beschwerdeziel des Heimleiters waren aber nicht die Verursacher, sondern ich. Auf der Piste waren unsere Berliner Ski-Spezies begeistert. Neben dem Lehrmeister war auch der Sportlehrer dabei. Mit bremsendem Abfahren per sogenanntem Schneepflug begann der Ski-Unterricht. Am Abend hatte ich in der Nähe des Ortsrandes gerade einen Weg überquert, als es neben mir zischte und wegen des Streusandes Funken sprühten. Das waren einige von unserer Truppe. Zum Neujahrstag hatten wir für uns Betreuer samt Familien einen Pferdeschlitten bestellt. 5o DM pro Nase. Und wir hatten ideale Bedingungen: Sonne und herrliche Winterlandschaft. Der Kutscher erzählte von einem früheren Kunden und bekannten Freund des Skilaufes: Staats- und Parteichef Walter Ulbricht. Von ihm hatte er sich ein kräftiges Trinkgeld erwartet. Nichts wars! Ulbricht hatte den Kutscher ganz gewiß als Kapitalisten eingestuft. Den hat er kurz gehalten. Wegen zwei PS?! Wer ist dann heute alles Kapitalist?


Beginn des Fernstudiums


Mit Beginn des Schuldienstes begann ich ein Fernstudium an der TU Dresden, um ein Physik-Diplom zu erreichen. Wegen des Lehrerstudiums bekam ich Zwischenprüfungen erlassen, aber der Gesamt-Wissensnachweis war doch zu erbringen. Das Physik-Praktikum fand im Labor der Humboldt-Universität neben dem Naturkundemuseum statt. Bei einem Experiment des Praktikums versagte die Technik. Neuanlauf am nächsten Sonnabend. An diesem Tag war ich auf die Geräte besser vorbereitet. Es sollte alles schneller gehen, denn der Tag war schon für andere Aufgaben eingeplant. In dieser Fitzerei langte ich zweimal in die 300 V Gleichstrom. Ein gesunder Körper verkraftet das! Unplanmäßigkeiten sollten eben nicht zu unüberlegtem Handeln verleiten. Auf Neu-Deutsch heißt das: cool bleiben!


Bei der Auswertung der gleichen Experimente wurde mehr Exaktheit als beim Lehrerstudium verlangt. Die Lehrbücher von Recknagel waren für das Fernstudium paßgerecht. Man hatte den Eindruck, daß der Name der Entdecker eines Phänomens wichtiger sei als das Phänomen selbst. An einem freien Tag ging ich zu dem Physik-Hörsaal auf dem Zellschen Weg der TU Dresden, um meinen späteren Prüfer mal kennenzulernen. Seine besonderen Maschen waren in Studentenkreisen mit manchem Scherz im Gespräch. Doch die Vorlesung hielt Prof. Haufe. Immerhin nahm sich Prof. Haufe in der Zwischenprüfung meiner an. Die Theoretische Physik wurde auf der Grundlage der Bücher von Prof. Macke behandelt. Auch hier waren somit keine Lehrbriefe notwendig, wie es sonst im Fernstudium üblich war. Kurz vor dem Prüfungstermin erkundigte ich mich über Besonderheiten bei dieser Prüfung. So handelte ich mir noch ein Thema ein, daß bisher nicht behandelt war. Der Betreuer an der Berliner Außenstelle des Fernstudiums war hauptamtlich Mitarbeiter bei dem Gerichtsmediziner Prof. Rapoport. Von Monat zu Monat war ein Quantum Macke zu studieren. Auf der Basis dessen waren monatlich ca. zehn Aufgaben zu lösen. Die erste Aufgabe war zum Anfüttern spielend leicht. Aber dann wurde es mit jeder Aufgabe schwieriger. Da es mit jedem Monat schwieriger wurde, war man gut beraten, lieber in den ersten Monaten einige Punkte auf Vorrat zu sammeln. Am Termintag mußten die Lösungen bis sieben Uhr im TU-Hausbriefkasten auf der Charlottenstraße sein. Ein Kommilitone hatte vom US-Raumfahrtzentrum Houston Hilfe für die Lösung einer Ebbe/Flut-Aufgabe erbeten. Damit war er aber auch verlassen. Einmal war unser Betreuer krank. Der Vertreter war weit im Rentenalter, aber körperlich und geistig noch sehr frisch. Er begann damit, daß wir ihm eine beliebigew Aufgabe aus dem behandelten Mathematik-Stoff stellen durften. Das machte Eindruck.


SED-Wahlkampf in Westberlin


Eine Theorie der SED lautete: Über die Medien, die von den finanzkräftigen Industriellen gesteuert werden, haben die Nazis die Meinungsbildung des gesamten deutschen Volkes korrumpiert. Jetzt waren die Medien rings um Westberlin herum in SED-Hand. Nach dieser Theorie müßte es jetzt möglich sein, Westberlin in SED-Hand zu bringen.Einen Wahlkampf hat die SED in Westberlin unter Einsatz aller Kräfte durchgeführt. V.a. wurden alle Sender rings um Westberlin täglich 24 Stunden eingesetzt. Nach SED-Theorie kann man bei genügend Medienverfügbarkeit durch 24-stündige Berieselung total manipulieren. Hugenberg-Prinzip! Am Ende betrug das Ergebnis für die SED (Westberlin) ca. 3 %. Totale Blamage! Keiner sprach mehr davon. Das Leben ging weiter. Für uns änderte sich nichts.


Passierscheinabkommen


Das Passierscheinabkommen war der erste Schritt, um das Auseinanderleben der Menschen in Ost- und Westberlin zu begrenzen. Die West-CDU hielt offizielle Verhandlungen als Anerkennung des Pankower SED-Regimes. Egon Bahr als Verhandlungsführer der SPD-geführten Regierung erfand die „kleinen Schritte“, damit die Menschen von Ost- und Westberlin sich wieder sprechen dürfen – zumindest die geteilten Familien und Verwandtschaften. In Berlin waren die Tage solcher Aktionen Tage großer Aufregung. Unser nicht an die Herstellungskosten angepaßtes Preissystem im Angebot für die Westberliner verursachte einige Diskussionen.


Die Absicht der DDR-Oberen war es, durch jahrelanges separates Auftreten zweier deutscher Staaten auf der Weltbühne staatsrechtlich vollendete Tatsachen zu schaffen. Wenn jahrelang Vertragsabschlüsse, diplomatische Treffen und Veranstaltungen mit dem einen oder anderen deutschen Staat stattfanden, würde bald niemand mehr etwas besonderes daran finden. Ein Teil des Völkerrechts nennt sich übrigens Gewohnheitsrecht. Bestandteil der „kleinen Schritte“ und der zugehörigen innerdeutschen Verträge war die Aussage, daß die deutsche Frage noch offen ist. Den Satz mußte Ostberlin schlucken, wenn es durch diese Verträge eine diplomatische Aufwertung sofort erhalten wollte.


Im Ostfernsehen gab es einen TV-Kommentator für Wirtschaftsfragen – natürlich SED-Genosse, zu dessen Eltern in Großräschen ich einen privaten Kanal hatte. Der jüngere Sohn dieses Ehepaares hatte zweimal versucht, nach dem Westen abzuhauen, war aber beide Male erwischt worden. Für's erste gab es standardmäßig zwei Jahre. Dann war er abgeschoben worden. Nun studierte er in Gießen. Sein SED-Genosse Bruder durfte nach all dem keinen Kontakt mit ihm haben. So wurde ich gefragt, ob sich die beiden in unserer Wohnung treffen dürften. Als die beiden Brüder kamen, habe ich ängstlich gefragt, ob das Auto mit dem Westkennzeichen auch weit genug abgestellt sei. Die beiden waren aber clever genug. Dann habe ich die Goßräschener Bruder für zwei Stunden allein gelassen.


Ältere Kassiererin verschwunden?


Meine Mutter arbeitete viele Jahre im staatlichen Handel, erst WOP = "Waren ohne Punkte", dann HO = "volkseigene Handelsorganisation", HOWA-Warenhaus, später umbenannt in CENTRUM. Vor ihrer Berentung arbeitete sie an der zentralen Kasse, wo auch mit Schecks und Abtragungen vom Sparbuch bezahlt werden konnte. Eines Tages klopfte die Kollegin von der Nachbarkasse an die Trennscheibe und sagte, daß sie ein Herr sprechen möchte, sie habe die Kasse abgeschlossen. Beide würden nur bis zum Treppenhaus gehen. Sie würde gleich zurückkommen. Sie kam und kam nicht zurück. Geschäftsleitung und Gewerkschaft versuchten es auf dem offiziellen Weg. Die Polizei suchte am Elbufer in Torgau, wo üblicherweise, die in Dresden ins Wasser Gestürzten angespült würden - doch keine Spur. Ursache: Sie hatte Wochen zuvor einer Bekannten den Koffer zum Bahnhof getragen. Ob sie wußte, wohin die Reise gehen sollte? Urteil: Zwei Jahre Knast wegen Unterstützung zur Republikflucht.


Der Einmarsch


Mein Cousin wohnte in Oberschöneweide und ich auf der Greifswalder Straße. So trafen wir uns nur in gewissen Abständen. Eine Genehmigung für ein Telefon war für mich chancenlos. Bei den Gesprächen blieb mein Cousin bei der Meinung, daß die in Bereitschaft liegenden Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten nicht einmarschieren würden. Am Tag nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei wurde seine Wohnung polizeilich geöffnet. Nach der Feststellung seines Todes wurde von seiner Arbeitsstelle, der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Babelsberg, ein Auto bereitgestellt, um meine Eltern und meine Dresdner Tante nach Berlin zu holen. Große Teile von Autobahn und Zufahrtsstraßen waren gesperrt. So brauchte das Auto die dreifache Zeit. Die Trauerrede wurde von Prof. Steiniger gehalten. Der zweite Anlauf zu einer Dissertation war offenbar mit dem Einmarsch geplatzt. Genaue Angaben über den Titel wurden mir nicht zugänglich.

>> START

Mutter:

Mutter


Ein halbes Jahr nach meinem Cousin starb mein Vater. Jahrelanges Rauchen und dann eine kräftige Erkältung und Rippenfellentzündung im Gefolge einer Dienstreise nach Bitterfeld waren offensichtlich die Ursachen für den Bronchialkarzinom. Mein Vater war noch nicht beerdigt, als die ersten Bewohner des Nachbarhauses mit kleineren Wohnungen bei meiner Mutter anklopften und um einen Wohnungstausch nachsuchten. Immerhin waren wir anteilige Eigentümer der Wohnung. Meine Mutter tauschte trotzdem in das Nachbarhaus, ohne von der Kohleheizung wegzukommen. Unter Beachtung von Alter und Gesundheit war das ein unvorteilhafter Tausch. Bei meinem nächsten Besuch war ich vor vollendete Tatsachen gestellt. Eine ferngeheizte Wohnung sprang bei dem Tausch nicht heraus. Meine Mutter nutzte zuweilen Urlaubsreiseangebote. Die Kräfte meiner Mutter ließen schrittweise nach, weitere Wohnraumverkleinerung folgte.


Ferienhaus am Werlsee


Mein Trainer, Werner Hegner, hatte ein Wochenendhaus am Werlsee, zwischen Königswusterhausen und Erkner gelegen. Die dortige Badestelle hatte eine besonders günstige Lage und war damals von den Berlinern noch wenig erkundet. Ich traf dort zufällig meinen Trainer und fragte ihn nach einem Quartier für einen Kurzurlaub in dieser Bungalow-Kolonie. Ich soll mal zu Frau X gehen und sie fragen. Sie könne eine kleine Einnahme gebrauchen. Ich ging hin, schaute mir den Bau an und mietete zu einem Termin diese Bleibe. Bei mehreren Gesprächen erfuhr ich stückenweise, daß sie das Haus noch nicht als fertig ansehe, nachdem sie etliche Jahre daran nichts handwerkeln konnte. Sie habe viele Jahre als Zigarettenarbeiterin gearbeitet. Die Architekturelemente hatte sie sich von etlichen anderen Häusern abgesehen. Sie hatte Mark um Mark für dieses Ziel zurückgelegt und natürlich viel Eigenleistung erbracht. Nach dem Krieg wurden Flüchtlinge und Vertriebene auch in dieser Siedlung einquartiert. Anläßlich einer Feier hatte sie wohl mit Gesang und Tanz sich etwas übermütig gezeigt. Indem man sie in die Klapsmühle brachte, hatte die anzeigende Flüchtlingsfamilie das Haus allein - Kochtöpfe eingeschlossen. In ihrer neuen Bleibe hatte unsere Wirtin Gartenarbeit zu leisten, für die sie je Stunde nur Pfennige erhielt. Nach etwa zehn Jahren gelang ihr die Anerkennung als selbstverantwortlicher Mensch. Ihr Elan dem Haus gegenüber war aber ungebremst.



Beginn bei der EDV


Einige Studienkollegen hatten schon während der Studienzeit auf verschiedenen Wegen in die EDV gefunden. Über meine Sportfreunde kam ich mit dem Vorbereitungskollektiv für den EDV-Einsatz ins Gespräch. Wir wurden uns einig. Zuerst schickte man mich zum Programmier-Lehrgang beim VEB Glühlampenwerk Berlin, obwohl ich mir schon einiges angelesen hatte. Leiter der Programmierung und zugleich Lehrgangsleiter war Dr. Seidel. Er zeichnete sich durch besonderen Fleiß aus. Erste Tests am R300 ermöglichte er auch den Programmierern anderer Betriebe und half bei Anfangsproblemen mit dieser neuen Technik. Nachmittags belegte ich zusätzlich einen EDV-Organisations-Lehrgang. So wurde ich mit dem Org.-Automaten 528 vertraut. Bei einem Lehrgang in Leipzig nutzten wir die Pausen zum Fußballspielen, sofern wir einen Ball uns organisieren konnten. Immerhin fand der Lehrgang im Vereinsgebäude auf einem Sportplatz statt. Mehrfach mußten Kinder für die Pausenzeit ihren Ball uns mehr oder weniger freiwillig ausleihen, denn unser Bemühen um Ausgleich zu dem stundenlangen Sitzen im Lehrgang kannte keine Rücksicht auf Kinder. Schlimm! Aber ein wenig erklärlich! Bei Lehrgängen in Altdöbern wurde nach der Begrüßung der Raum nur für SED-Parteimitglieder reserviert, damit diese eine zeitweilige Parteigruppe bilden konnten. Der Rest hatte derweil Pause. Ein weiterer EDV-Spezialist mit überbetrieblicher Bedeutung war Dr. Hanisch. Er hatte eine Lehrhilfe für ESER-Assembler verfaßt. Nach dem Drucken stellten seine Vorgesetzten fest, daß er auf den Seiten kleine IBM-Männchen eingefügt hatte. Diese sollten beim Lesen des trockenen Stoffes der Aufmunterung dienen. Von den Vorgesetzten waren zwar fast alle SED-Mitglieder, aber Programmieren konnte kaum einer davon. Woher sollte auch das Verständnis für den trockenen Stoff kommen? Auch ein Grund, Ärger zu bekommen! Als ich mich mit Dr. Hanisch über fachliche Probleme austauschte, schüttete er mir darum sein Herz aus. Ebenso wie Dr. Seidel wurde er als Dank für seinen Fleiß von gesundheitlichen Problemen geplagt.


Üblicherweise war für ein EDV-Projekt zuerst ein Grob-, dann ein Feinprojekt, schließlich Programmierung und Routine-Einführung zu bewältigen.


Als Feinprojekte zur Programmierung in meinem Betrieb VEB Elektroprojekt Berlin noch nicht erarbeitet waren, begann ich mit der Programmierung für erste einfache Aufgaben wie Dateneingabe auf magnetischen Datenträger, Datenprüfung auf Numerik und Prüfziffern, Vereinigen von Dateien mit gleicher Satzlänge, Korrigieren v.a. von Stammdateien und Drucken von Listen. Ohne Vorliegen von Feinprojekten konnten diese Programme nur nutzbringend sein, wenn die Parameter für den speziellen Anwendungsfall erst bei Beginn der Abarbeitung eingegeben und in das für viele Anwendungsfälle einheitliche Programmgerüst generiert wurde. Im Maschinencode! Das dauerte weniger als eine Sekunde. Die SOPS-Methode, die Prof. Tzschoppe quer durch die ganze DDR und ebenso auch im Lehrbetrieb propagierte, basierte auf der Makro-Generierung von Quellcode und der erst anschließend kompletten Compilierung. Das dauerte je Anwendungsprojekt durch die außerdem vielen externen Zugriffe etliche Stunden. Die uns verfügbare Technik brach dabei häufig total ab, sodaß man von vorn beginnen mußte. Die bisher für die Betriebsabrechnung genutzte Lochkartentechnik war so abgewirtschaftet, daß schnellstens die Überleitung auf EDV forciert werden mußte. Obwohl Anfang Dezember 1969 etliche Feinprojekte noch nicht fertig waren, sollten Anfang Februar die Januardaten des VEB Elektroprojekt Berlin über alle Projekte hin integriert im DVZ (= VEB Datenverarbeitungszentrum) abgearbeitet werden. Das war nur mit meinen UNI-Programmen möglich. Um den vollen Effekt dieser neuen Programme zu erreichen, mußten weitere in Arbeit befindliche Programme zum Abschluß gebracht werden: A) Stammdatenzuordnung, um den meist monatlichen Bewegungsdaten wie beispielsweise Stückzahlen Preise und andere Stammdaten zuzuordnen. Die Zuordnung erfolgte über Artikel-Nr., Personal-Nr. o.ä.. B) Selektion für die Auswahl von Datensätzen nach Bedingungen, die mit UND und ODER verknüpfbar waren. C) Tabellierung als Listendruck mit Zwischensummen verschiedener Ordnung und statistischen Angaben. Für die großen Datenmengen von bis zu 100.000 Datensätzen je Programmlauf durfte es wegen einer fehlerhaften Datenerfassung zu keinem Stillstand kommen. Zu diesem Zweck wurden Fehlerroutinen eingebaut. Wegen mangelhafter Zuarbeit ging ich immer mehr in Opposition zu den fachlich im Abseits stehenden Vorgesetzten - natürlich in rein technischen Angelegenheiten - bis zum Ausruf des letzten sächsischen Königs: "Macht doch eiern Dreck alleene!" Allerdings ließ ich mir nicht nachsagen, bei der EDV-Einführung versagt zu haben. Schließlich blieb dieser Betrieb samt seinen UNI-Programm-Nachnutzern bzgl. dieser Programme auf diesem Stand. Der Dresdner UNIPRO-Nachnutzer VEB Starkstromanlagenbau "Otto Buchwitz" kam nach meinem Arbeitsbeginn in Dresden doch in den Besitz der neuesten Versionen dieser Programme. Aber dazu später.


Abschließend noch eine Anekdote: Lochkartenstations-Chef Dittrich hatte versucht, eine junge Kollegin zu verantwortlicherer Arbeit zu animieren. Sie könne ja dann etwas mehr verdienen. Ihre Antwort dazu: "Für den Lippenstift reicht es immer noch."


Programmierung


Nachdem die Funktionsweise der UNI-Programme einmal bekannt war, war der schwankende Umstellungstermin Jahreswechsel doch noch erreichbar. Etliche Teilaufgaben waren nur mit Sonderaktionen erreichbar, weil es offensichtliche Fehlleistungen gab. Feinprojekte lagen zur weiteren Bearbeitung durch uns nicht vor. Basis für die UNI-Programme waren ein sehr primitives Dateidruck-Programm, ein anwendungs-projekt-tauglicher Sortier-Generator, meine ehemaligen Psychologie-Lehrveranstaltung-Mitschriften. Hinzu kamen die Mitschriften vom R300-Programmier-Lehrgang im Berliner Glühlampenwerk bei Dr. Seidel, der sehr agil alle Aufgaben anging und einige Jahre später bei einem Wiedersehen einen recht abgekämpften Eindruck machte - auch in der Literatur nicht mehr auftrat.


Die Bearbeitung der ersten Feinprojekte führte in meinem Bereich zu einigen Konflikten. Ein Entwurf zum Feinprojektteil für die Programmierung hatte Joachim Küpper in den Papierkorb geschmissen. So der Vorwurf des Kollegen Organisators aus der benachbarten Themengruppe. Kollege Küpper erklärte mir, daß es wohl etwas ganz anderes sei, ob er ein Blatt Papier in oder auf den Papierkorb gelegt habe - geschmissen? Nein, er doch nicht.


Die Welt verändern?


Bei einer Gerichtsverhandlung um die Anerkennung meiner UNI-Programme als Neuerervorschlag wollte ich andeuten, daß man nicht nur durch Auswerten von Literaur dem Weltstand hinterherfahren darf, sondern eigene Forschung und Entwicklung betreiben müsse. Bisher sei die Welt (die Welt der EDV ist hier gemeint) nur verschieden interpretiert worden, jetzt komme es darauf an, sie zu verändern. Die Richterin schreckte auf dieses Marx-Wort hin auf. Einige böse Worte der Richterin deuteten an, daß hier noch etwas von ihr folgen könnte. Daß ich eine Veränderung der DDR-Welt vorhabe, war mir nicht nachzuweisen.


"Offizialverfahren"


Bei einer anderen Auseinandersetzung vor Gericht bezog ich mich auf den aus einem Buch meines Vaters aufgelesenen Begriff "Offizialverfahren". Dieser Begriff spielt eine Rolle, wenn die Polizei eine Feststellung getroffen hat (z.B. bei Tod eines Opfers) und dann von Staats wegen ein Verfahren in Gang gebracht wird. Die Richterin sprach plötzlich in einem anderen Ton, wo ich denn diesen Begriff herhabe? Das sah gefährlich aus! Ich konnte mich aus dieser Umklammerung heraushalten. Ich gab vor, den Begriff eben irgendwann mal gehört zu haben..Nichts mit Westen oder so!


Prof. Schoppan: „Reichen Sie baldigst ein!“


Die UNI-Programme propagierte ich ab 1970 in der Fachzeitschrift "Rechentechnik/Datenverarbeitung". Als ich dafür erstmals zum Verlag "WIRTSCHAFT" kam, war mein Name aus meiner Luftfahrtzeit noch schwach in Erinnerung. So nahm man an, daß ich in den engeren Kreis gehöre. Auch das Wort „Genosse“ hörte ich mal in der Anrede. Und so rutschte ich Jahr um Jahr in den Kreis der Autoren. Die Zusammenarbeit mit Redaktion und Gutachtern lief recht manierlich ab.


Prof. Schoppan war Lehrstuhlinhaber für Datenverarbeitung an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst. Bei meinen ersten Veröffentlichungen in der Zeitschrift Rechentechnik/Datenverarbeitung habe ich nicht gewußt, wer meine Manuskripte begutachtet. Als die Begutachtung mir einmal zu lange dauerte, stieß ich über den im Einband genannten Beiratsvorsitzenden nach. Das war eben dieser Prof. Schoppan. Ich erfuhr, daß jedes meiner Manuskripte bis dahin von einem anderen Gutachter bearbeitet wurde. Dr. Stuchlick aus Magdeburg ist mir als einer davon noch in Erinnerung, dessen Sohn Jahre später bei mir Lehrveranstaltungen besuchte. Das Vergabeverfahren sollte Mauscheleien ausschließen.


Ich stellte Prof. Schoppan meine nächste Zielstellung vor, nicht nur Programme zu realisieren, in der Praxis zu erproben und zu dokumentieren, sondern die Technologie des schöpferischen Prozesses bei dem Projekt UNI-Programme zu beschreiben. Er war davon begeistert, gab aber zu bedenken: „Sie werden doch nicht eine zweite Diplomarbeit schreiben! Geben Sie vier Exemplare ab! Reichen Sie baldigst ein!“ Ich versuchte ihn zu bremsen, daß ich weder die dafür nötigen Sprachprüfungen noch die Philosophieprüfung absolviert habe. Er entgegnete nur: „Das lassen Sie mal meine Sorge sein!“ Er machte noch einen Zusatz: Ich solle auch darüber etwas bringen, wie man mathematische Modelle in mein System einbeziehen kann. Mathematische Modelle waren zu diesem Zeitpunkt der Renner. Gab es in der DDR irgendein ungelöstes Problem, mathematische Modelle sollten es bewältigen. Als es einmal in Ostberlin nicht genug Briketts gab, mußte ich mit meinen Programmen zum Testen im DVZ warten, weil ein anderer Programmierer mit seinen mathematischen Modellen für die Brikettverteilung Vorrang hatte. Währenddessen bekam ich kalte Füße.


Tags war ich auf Arbeit. Dann ein paar häusliche oder Einkaufsaufgaben und schließlich Abendbrot. Dann wurde für das neue Projekt gestrebt. Um Mitternacht gab es meist eine Pause. Aus diversen Kühlschrankinhalten mixte ich mir da etwas. Nachdem die Programme einen praktikablen Stand erreicht hatten, dokumentierte ich sie, schrieb die Theorie auf und tippte das Ganze ein. Kurz vor einem gewissen Wochenende gab ich die Arbeit in vier Exemplaren ab und fuhr mit der Familie einfach weg – einfach alles hinter mir lassend.


Am Montag fuhr ich in der Mittagspause zur Hochschule in Karlshorst, um restliche Bücher abzugeben. Beim Durchqueren der Mensa traf ich zufällig Prof. Schoppan. Er entschuldigte sich fast eine ganze Stunde lang bei mir. Ich wußte nicht, was das bedeuten soll. Dann bekam ich mit, das über genau das Wochenende ein SED-Parteitag stattgefunden hatte. Es war die "führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse" beschlossen worden. Prof. Schoppan können darum meine Arbeit nicht mehr betreuen. Er meinte, andernfalls selbst Ärger zu bekommen. Ich winkte ab. Ich käme auch so um die Runden.


Schließlich berücksichtigte Prof. Schoppan, daß ich doch viel Zeit in das Projekt investiert hatte. Er erklärte sich zu einem Gutachten bereit. Dieses sollte aber vorsichtshalber im Briefkopf die Adresse seines Mitarbeiters Dr. Werner Müller tragen. Dieser bestätigte in seiner „Stellungnahme“ vom 2.8.72 immerhin einige Feststellungen zur besagten Arbeit:

Mit seiner Arbeit widmet sich der Verfasser einem wichtigen Anliegen unserer EDV-Politik, der Rationalisierung der Vorbereitung der Anwendung der EDV. Der Verfasser hat erkannt, daß ein höherer Grad der Standardisierung bei der Projektierung und ein größeres Maß an Variabilität der Projekte mit dazu beitragen können, den Grad der Nachnutzung einmal vorgefertigter EDV-Lösungen zu erhöhen und damit die relativen Projektkosten zu senken. ... Der Kern der mir vorliegenden Ausarbeitung besteht aus einer Reihe von Programmbausteinlösungen in Form von Programmgeneratoren und Makros für die Dateneingabe und Datenaufbereitung mittels R 300. ... Diese Bausteine sind so konzipiert, daß sie für eine breite Palette inhaltlich verschiedener, datenverarbeitungsseitig ähnlicher Aufgaben wahlweise kombinierbar einsetzbar sind. Sie zeichnen sich durch einen hohen Grad der Variabilität aus. ... Mit den vorgelegten Lösungen läßt sich ein relativ hoher Prozentsatz traditioneller betrieblicher Dispositions- und Abrechnungsaufgaben edv-mäßig einleiten bzw. abdecken. ... Aus den angebotenen Programmlösungen sprechen Versiertheit und Gewissenhaftigkeit eines Programmierers sowie das Bestreben, neue Wege in der Projektierung zu gehen. Die Lösungen sind es wert, einem breiten potentiellen Nutzerkreis zugänglich zu machen.“ Dazu wird kritisiert, daß die DV-Details zu sehr im Vordergrund stehen und damit der Blick für das „WOFÜR“ vernebelt würde. Der streckenweise gewählte Telegrammstil diene nicht unbedingt der Popularisierung neuer Wege. Heute sage ich: Nur gut, daß ich nicht noch mehr Zeit in diese Ausarbeitung gesteckt habe. Zuerst hat mich dieser Ausgang familiär und beim Abschließen des Physik-Fernstudiums in eine doppelte Anspannungsphase gebracht. Letztlich wollte mich die Armee noch in ihre Arme schließen. Für Sonderaktionen waren vorerst nicht sinnvoll.



Revolution oder Evolution?


In einer Demokratie müßte der Bürger zumindest dann Einfluß auf die Politik nehmen können, wenn sich seine Meinung mit der noch vieler anderer in Übereinstimmung befindet. Von Streik- und Wahlrecht konnte man nicht sprechen. Daran schloß sich die Frage an, wie man doch zu Fortschritten kommen könnte. Eine dann bessere Anerkennung dieses Staates in der Welt sollte ja nicht unser Problem sein. Man hatte uns übers Ohr gehauen, als man Reisefreiheit versprach, falls es diplomatische Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten und für die DDR eine Mitgliedschaft in der UNO geben würde. Selbst für die Über-40-jährigen gab es keine Fortschritte, wie man es zuvor versprochen hatte. Ein revolutionärer Weg war 1953 abgelaufen. Eine Wiederholung konnte keiner wollen. Materiell konnte man sich nicht beschweren. Insbesondere für soziale Fälle wurde gesorgt. Aber diese Falschheit in den Medien war zum ... . Also blieb nur der evolutionäre Weg übrig. Dieser Weg ging mit Egon Bahrs Weg der kleinen Schritte konform.


Rechenzentrum Verkehrswesen


Ich wollte meine Arbeitsmöglichkeiten in Dresden testen. Als ich beim Rechenzentrum Verkehrswesens in Dresden zum vereinbarten Termin erschien, war die Pförtnerloge leer. Gegenüber sortierte ein älterer Mitarbeiter Papiere, Lochkarten und Drucklisten.. Er fragte mich zuerst nach meinem Begehr und dann nach meinem Namen. Nach meiner Antwort rief er lautstark, daß ich gehen könne, denn mit solchen Leuten wolle man hier nichts zu tun haben. Diese veränderte Stimmung hatte ganz gewiß eine Ursache. Aber genauer war nichts festzustellen. Dies war allerdings ein krasser Einzelfall. Immerhin brauchte man Fachleute. Neben den Partei-Schwaflern brauchte man noch jemand, der die Arbeit machte. Außerdem wollte man niemand zu unkontrollierten Reaktionen provozieren, denn dann würde das übergeordnete „Organ“ auch nach demjenigen fragen, der provoziert hatte.


Hauptstadtkultur


Im DDR-hauptstädtischen Berlin gab es immerhin ein passables Kulturangebote. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen:


Komische Oper "Der Fiedler auf dem Dach" von Prof. Felsenstein

Friedrichstadtpalast (alt) mit Louis Armstrong

weithin anerkanntes Programm der Lindenoper

Volksbühne "Der Drache" mit Eberhard Escheund dem Wurrrrm

Deutsches Theater "Nathan der Weise" mit E. v. Winterstein

Theater am Schiffbauer Damm "Arturo Ui" mit E. Schall und

dem „Arturo Ui“

Abschlußball der Berliner Festtage

Volksbühne "Cäsar und Kleopatra" mit A. Domröse und W. Kaiser


Abschluß des Fernstudiums


Die letzte Phase des Fernstudiums beinhaltete folgende Aktivitäten:

Praktikum der analytischen Chemie im TU-Gelände Dresden

Vertretungs-Math.-Dozent (ohne Vorbereitung): Stellen Sie Ihre Fragen!

Abgabe der Belegarbeiten auf der Charlottenstr. am Berliner Dom

Nuklearphysik-Praktikum in Pirna-Copitz mit Soll: HF-Technik

Experimentalphysik-Prüfung bei Prof. Recknagel - ein Erlebnis!

Diplomarbeit bei Prof. Adam (Kernkraftwerkstechnik)

Diplomverteidigung: Betrieblicher und TU-Betreuer (Herr Wolter und Herr Schubert)

totales Differential

'''' df '''' df '''' df

df = -- dx + -- dy + -- dz

.... dx .... dy .... dz

wobei jeweils die Quotienten partiell gemeint sind, kam in meinem Vortrag einführend vor.

Einspruch des TU-Betreuers Schubert: 1 = 1 + 1 + 1 folge aus dieser Gleichung. Auf diese Unterbrechung meines Vortrages reagierte ich nur mit den Worten: "Das ist Mathematikstoff Ende des ersten Studienjahres. Das kann nicht Gegenstand einer Diplomverteidigung sein. Ich fahre mit meinem Vortrag fort ..." Ich setzte meinen Vortrag unbeirrt fort. Derweil gab es echten Streit zwischen betrieblichem und TU-Betreuer. Auch Prof. Adam gab keine Meinung von sich. Während des weiteren Streits und der Klärung unterbrach man meinen Vortrag. Um eine Blöße zu vermeiden, tagte die Kommission unter sich. Man holte das Buch vom Strömungslehre-Papst der TU, Prof. Ahlbrink. Nachdem man darin genau meine Formal fand, durfte die Diplomverteidigung fortgesetzt werden. Prof. Pirl hätte einen Herzschlag bekommen, wenn er das miterlebt hätte. Herr Schubert sorgte am Ende dafür, daß meine Note wegen des Zwischenfalles kräftig gedrückt wurde. Immerhin war er ein guter SED-Genosse. Allein damit hat er es doch im Leben schon zu etwas gebracht!? Prof. Adam, der für den viel kleineren Rossendorfer Reaktor die entsprechende Berechnung gemacht haben soll, konnte offensichtlich bei der für den viel größeren Reaktor notwendigen Mathematik nicht mithalten. Er vertrat den Bereich Kernkraftwerkstechnik , aber nicht Kernphysik. Als wesentliche Basis für meine Arbeit nutzte ich das westdeutsche Buch über Kernkraftwerkstechnik von Smith. Es beschäftigte sich sowohl mit Kernkraftwerkstechnik als auch mit Kernkraftwerksphysik und zusätzlich noch mit ökonomischen Aspekten. Bei Milliardenvorhaben darf man eben keine technische Entwicklung betreiben, ohne Kosten-, Zeit- und Zuverlässigkeitsaspekte zu berücksichtigen.


Der Betriebskollektivvertrag enthielt einen Passus, der einen Qualifizierungsvertrag für Fernstudenten versprach. Etwa ein Jahr vor Ende des Fernstudiums bekam ich einen solchen Vertrag. Um die Realisierung des Passus einer gehaltlichen Verbesserung drückte man sich so lange es ging. Letztendlich klappte es doch, aber erst nach Absolvierung des Armeedienstes.


Armeedienst


Kurz nach dem zweiten Studienabschluß wollte mich die Armee holen. Das wäre mitten im ersten Schuljahr meiner Tochter gewesen, die jeden Früh durch das Baustellengelände in der Nähe des Bärenschaufensters am Berliner Tierpark hätte gehen und dann mit der Straßenbahn bis Oberschöneweide hätte fahren müssen. Aus diesem Grunde erzielte ich immerhin eine Verschiebung des Wehrdienstes um ein Halbjahr. Die gleichen Probleme wie bei der Armeewerbung in Dresden wollte ich nicht nochmals riskieren. Immerhin hatte ich im Vergleich zu den früheren Umständen ein ganzes Stück meiner Ausbildung vorangebracht. Als Inhaber einer LKW-Fahrerlaubnis hatte ich weniger Marschier­Kilometer zu absolvieren. Für mein Kritisieren des Zielbildes bei der Schießausbildung hatte ich eine einfache Begründung: Es gab eine andere Vorschrift bei der Polizei der Weimarer Zeit. Ziel war es damals, einen aufgefundenen Verbrecher nach vergeblichem Anruf nur laufunfähig zu machen. Hier aber zeigten die Zielbilder den Oberkörper einer Person! Dieses kleine Mäkeln ging ohne Schaden ab.


Mein Zug hatte einen Hauptmann Richter als Zugführer. Dieser Hauptmann bot in Abweichung von der Dienstvorschrift uns das "Du" an. Wir schauten uns fragend an. Letztlich nickten wir zu. Als ich davon Gebrauch machen wollte, wurde ich freundlich, aber sehr bestimmt ermahnt, daß dies doch so nicht gemeint gewesen sei. Das Du verstand er nur von seiner Seite uns gegenüber.


Urlaub mit Tochter in Altenberg


War das Sommerhalbjahr durch den Reservistendienst weg, so hatte ich nun Gelegenheit zum Winterurlaub. Die Kollegen hatten mich mit mancher guten Geste durch die Armeezeit begleitet. So bekam ich jetzt den in meinen Zeitplan passenden Urlaubsplatz während der Schulferien. Ein gewerkschaftlicher Platz in Altenberg war eben mit einer mittelmäßigen Unterkunft verbunden. Wir unternahmen Skitouren bis nach Schellerhau, zur Ladenmühle, nach Rehefeld und auf den Kahleberg. Meine Tochter war auf den Skiern schon recht fortgeschritten, wenn man ihr Alter beachtete. Aber bei mittelschweren Bergaufschritten steckte sie trotz wiederholter Belehrungen die Stöcke vor ihren Füßen in den Schnee. Dann konnte sie beim besten Willen nicht vorankommen. Und bei der Abfahrt am Fleischerhang kannte sie keine Grenze. Ohne mein Zutun wäre sie einfach geradeaus bergab gefahren. Am unteren Ende wäre man bei Geradeausfahrt entweder auf ein Hatel oder eine querende Straße gestoßen. Vor solchem Ungemach konnte ich sie nur schützen, indem ich seitlich vor ihr fuhr und sie bei zu schneller Fahrt seitlich abdrängte. Am Heimfahrtswochenende war meine Tochter bei meiner Mutter gut aufgehoben. So konnte ich eine Alleintour nach Schellerhau unternehmen. Dabei passierte einem anderen Mädchen genau das, was ich bei der eigenen Tochter durch das Abdrängen vermieden habe. Das etwa 15-jährige Mädchen rief ihrem Bruder auf halber Höhe lachend zu, daß sie nicht mehr Herr der Lage war. Sie fuhr gegen die Hauswand am Bahnende. Ein Fenster des Hauses wurde geöffnet. Es war das Fenster des Warteraumes der Gemeindeschwesternstation. Wir legten das bewußtlose Mädchen auf einen Rodelschlitten, um es schnellstmöglich einer fachgerechten Behandlung zuzuführen. Die Gemeindeschwester war allerdings irgendwo in diesem langgestreckten Schellerhau. Bei einer späteren Fahrt nach Schellerhau erfuhr ich, daß es mit dem Unfall den Umständen nach halbwegs ausgegangen war.

>> START

Meer:

Zum Schwarze Meer


1976 waren Fernstudium und Armeedienst vorbei. Erstmals stand ein Auto mit Viertaktmotor und einem auf 1,9 m Länge erweiterbaren Kofferraum zur Verfügung. Damit war mir erstmals eine Individualreise nach Bulgarien sinnvoll möglich. Wenn einem das Leben an der bulgarischen Schwarzmeerküste bekannt war, so ergaben sich im Binnenland noch einige Besonderheiten. In Rumänien erschien wildes Campen (auch wenn es im Auto ist) als zu risikovoll. Als es am ersten Tag in Rumänien zu Dunkeln begann, führte der Weg durch die Kleinstadt Caransebes, gelegen zwischen der Tiefebene um Arad und dem historischen Heilbad Herkulesbad. "S'il vous plait, auto à la cour pour une nuit." Die eine Frau hatte das DDR-Schild schon gesehen und antwortete auf Deutsch. "Sie können sich mit uns ruhig auf Deitsch unterhalten, wir sind schon seit dem 13. Jht. hier, sind aber keine Sachsen wie die in Siebenbürgen. Wir sind Schwaben." So die Worte von Frau Maria Weber. Mit einem schnellen Verschwinden in der Koje war es nichts. An diesem Tag fieberten auch die Rumäniendeutschen mit Rumäniens Spitzenturnerin bei den Olympischen Spielen. Trotzdem war viel über Land und Leute zu erfahren. Beim Erzählen über Schulprobleme wurde beiläufig die morgendliche Grußformel "Grüß Gott, Genossin Lehrerin" genannnt. Daß dies möglich ist, wollte ich anfangs nicht glauben.


Doppelt gebrannter Schnaps wurde unter die halb geöffneten Fensterläden hindurch gehandelt. In der regionalen deutschsprachigen Zeitung erfuhr ich weiteres. Neben den Berichten über immer höhere Produktionserfolge standen Gerichtsberichte zu schwerkriminellen Fällen. Wohl auch wegen solcher Fälle kam die Einladung zur Übernachtung im Haus. Schlafen im Auto hätte die Gastgeber verletzt. Am nächsten Vormittag waren Garten, Stallung und der Weinstock im Hof zu bestaunen. Die Produktion der Eigenversorgung war der Tatsache geschuldet, daß es noch Lebensmittelkarten gab. Kühltruhe und Boiler stammten aus der "Bundesrepublik". Nur mit der Stromversorgung klappte es nicht so richtig. Was hilft die Kühltruhe, wenn es nur stundenweise Strom gibt? Ein MB1000-Skoda war ja damals kein schlechtes Auto. Sogar recht sparsam. Was hilft der SKODA, wenn es Sprit nur wöchentlich und dann noch limitiert gibt. Tags zuvor war mir in Temesvar an einem Haus die Leuchtreklame "Deutsches Staatstheater" aufgefallen. In den Kirchen waren Fensterinschriften oft in mehreren Sprachen angebracht.


In einem anderen Jahr fuhr ich mit Familie Weber nach Wolfsberg im Semenikgebirge. Die über dreißig km lange Strecke ab Hauptstraße war teilweise nur mit schleifender Kupplung im ersten Gang zu befahren. Zum Sonntagsgottesdienst standen Menschen bis vor die Tür. Das wäre ein Bild zum Fotografieren und zum Nachdenken gewesen: Menschen in bäuerlicher Kleidung, darunter eine junge Frau mit einem in eine Decke gewickelten Kleinkind. Das erinnerte an die Weihnachtsgeschichte. Unsere Gastgeber holten in dem Ort (Weidenthal?) ihre Campingartikel ab, weil wir an dem Bergsee "Drei-Gewässer" (Trei Ape) campen wollten. Außerorts sahen wir die Einheimischen bei der Heuernte. Dem guten Wetter entsprechend war wohl alles auf den Beinen. Ein vollbeladener Heuwagen war an dem Hang zwischen Erntefläche und Weg umgekippt. Pferdebespannt glaubte man diesen Übergang ohne Umweg meistern zu können. Die Pferde hatten das Umkippen gut überstanden. Aber während unseres Aufenthaltes dort kam der Wagen noch nicht wieder auf die Räder. Zu voll war er beladen. Andere Leute mußten Ochsen oder gar Kühe vorspannen.


Zwischendurch fuhren wir zur Mutter der jungen Frau Weber nach Wolfsburg. Reines Mittelalter! Trotzdem wurde hier alles Lebensnotwendige erzeugt. In der Räucherkammer hing ein riesiger Schinken. Der Hof war von eigenen oder Nachbars Gebäuden umsäumt. Hinter der Scheune und damit entgegengesetzt zur Dorfstraße befand sich der Gemüsegarten. Während unseres Rundganges durch die Räume und über den Hof klopfte es am Tor. Punkt 18 Uhr. Es war die zum Hof gehörende Kuh, die beim Abtrieb von der Gemeindekoppel allein wußte, wo ihr Stall ist.


Einen Korb voll mit Artikeln, die es hier oben nicht gab, brachte die Tochter aus Caransebes mit. Auf dem Rückweg wurde Sahne, Schinken u.ä. transportiert. Wenn das Geld seinen Wert verloren hat, behilft man sich mit Tauschhandel. Der moderne Großstadtmensch kann sich die dazu notwendigen Mühen nicht vorstellen. Bei zwanzig Litern Benzin je Monat wird es selbst für den findigen Besserverdienenden zum Problem. Wer über einen solchen Kanal nicht verfügt, alleinstehend krank oder alt ist, bekommt nur das Elementarste. Viele Menschen verfielen in dieser kulturellen Einöde dem Alkohol. So auch der Bruder der jungen Frau Weber. Er war immerhin zu einem österreichischen Benzinrasenmäher gekommen und schaffte so an seinen Urlaubstagen sein privates Mähsoll. An Arbeitstagen schafft er wegen der langen Fahrzeit zum und vom Arbeitsort abends nichts derartiges mehr. Oft fielen mir hunderte Menschen am Straßenrand auf, die zum Feierabend nach Hause wollten. Wenn ich anhielt, um einen mitzunehmen, wurden so viele hineingequetscht, wie irgendwie hineinpaßten. Am Ende wurde mir trotz meines Protestes ein Taxi-Fahrgeld hinterlegt. Man war also froh, nicht auf den Bus warten zu müssen. Dabei hatte dieses Land gut dreißig Jahre vorher den technischen Standard gehabt, das zeitweise schnellste Serien-Jagdflugzeug Me 109 zu bauen.


Die Fahrt ging weiter über Herkulesbad (Herculane Bail) in Richtung Schwarzes Meer. Kurz vor Calafat, von wo die Autofähre über die Donau zur bulgarischen Seite fuhr, gab es sogar rote Rosen aus dem Bestand der kilometerlangen Straßenkultur. Ein junges Mädchen, das gemeinsam mit einer Frau mit der Pflege der Rosen beschäftigt war, erwies diesen Freundschaftsbeweis. Außer "merci" brachte ich nichts zusammen, was als qualifizierte Entgegnung hätte gelten können. Wenige Kilometer weiter:Ob der von weitem sichtbaren Rosen salutierte der rumänische Grenzposten. Damit war die Grenzkontrolle auf rumänischer Seite erledigt.


Die ungarische Art


Bei einer späteren Fahrt nach Bulgarien überquerte ich etwa um Mitternacht die slowakisch-ungarische Grenze. Grenz- und Zollkontrolle konnte immerhin schon nur von einer Seite vorgenommen werden. Ich grüßte den ungarischen Posten mit: "Jo napot!" "Oh, Sie sprechen ungarisch?" antwortete er. Ich verneinte und bezifferte meinen ungarischen Wortschatz auf zehn Wörter. Das machte ihn neugierig. "Was kennen sie?" Vom letzten Ungarn-Urlaub war folgendes übrig geblieben: üdülö, gar, halasz bastia, halasz gulyas, becsi kapu ter, utca. Er antwortete: "Nicht gut!" und zählte seinerseits zehn Wörter auf, von denen ich kein einziges verstand. Dann übersetzte er: "Schöne Frau", "küß die Hand", "Madame" usw.


Karl-Marx-Stadt/Chemnitz


Für das damalige Karl-Marx-Stadt hatte ich eine Dreiraumwohnung mit großer Diele, Etagenheizung, Telefon und Garage aufgetrieben. Auch die Familie hatte ihre Zustimmung gegeben, bevor ich die Unterschrift zum Wohnungstausch gab. Mit mehreren potenten Arbeitsstellen war ich im Gespräch. Die Bedingungen waren unterschiedlich. So hielt ich mir einiges warm. Ein Angebot meines damaligen Betriebes, mich auf der dortigen Kraftwerksbaustelle in der Datenendstelle einzusetzen, erschien mir wenig sinnvoll, da ich mich mehr mit schöpferischer Arbeit betätigt hatte und dies auch weiterhin tun wollte. Zum Jahreswechsel wurde ein Einstellungsverbot für den gesamten Bezirk KMSt verfügt. Ab zehnten Dezember war ich mit den Möbeln aus Berlin in der neuen Wohnung. Zuerst verweigerte jeder angesprochene Betrieb ein Gespräch über Einstellungsbedingungen, weil ich noch bis Jahrsende Mitarbeiter des Berliner Betriebes war. Es gab eine solche Vorschrift, um Abwerbung möglichst zu vermeiden. Per Neujahr war unerwartet eine Einstellungssperre für den gesamten Bezirk KMSt verfügt worden. Damit saß ich ohne Arbeit in der Falle. Nachdem ich neues Auto, Möbelspedition, Garage, Einbauten in der neuen Wohnung, Telefon, Kohlen usw. bezahlt hatte, wurde es auch noch finanziell eng. Unweit der Wohnung war eine Schule. Als ich dem Direktor mein Lehrer-Examen zeigte, war er begeistert. Für Mathematik und Physik vermeldete er höchste Dringlichkeit. Noch am gleichen Tage sollte ich an der Schule meine erste Unterrichtsstunde geben. In der Zwischenzeit sollte ich mir grünes Licht auf dem Rat des Stadtbezirkes holen. Dort saß mir eine Art FDJ-Sekretär gegenüber. Als er merkte, daß ich aus Berlin komme, wurde er nachdenklich und bestand auf dem Vorliegen der Kaderakte. Bis die aber hier vorliegen würde, wären etliche Tage vergangen. Ich versuchte es in etlichen anderen Betrieben. Antwort dort: Können nicht, dürfen nicht oder mal sehen. Beim Beseitigen von Wasserflecken, hatte ich Fluat eingesetzt und mir eine Blutvergiftung zugezogen. Eine Ärztin hatte mir jegliche Hilfe versagt, weil ich per 31.12. mir den Austragungsstempel vom alten Betrieb geholt hatte. Das interpretierte sie als arbeitsscheu. Nun lief ich außerdem noch mit einem Verband zu den Betrieben. Beim Dekan der Sektion Informationsverarbeitung der Technischen Hochschule KMSt ging es sehr wortkarg zu. Seinen Sohn traf ich Jahre später im Rechenzentrum der United Bank of Switzerland in Zürich. Beim Dekan gab es nur Vertröstung. Hausleute empfahlen mir den an der TH für die Sektion Automatisierungstechnik lehrenden Prof. Burdan, der Mitglied der liberalen LDPD war und später im Modrow-Kabinett Minister wurde. Er war sehr freundlich. Interessant an ihm war, wie er mit zehn Wörtern das sagte, wofür andere Menschen einen halben Roman erzählen. Letztlich half aber auch dieser Gang nichts.


Vom Einstellungsverbot im Bezirk KMSt war nur das Brennstoffinstitut in Freiberg befreit. Die zugehörige Kaderabteilung befand sich ohnehin in Dresden. Arbeitsgegenstand war die Projektierung einer automatisierten Fabrik für die Herstellung von Urandioxyd-Pellets zur Bestückung von Kernreaktoren. Es war von Anfang an als Übergangsarbeitsverhältnis mit verkürzter Kündigungsfrist deklariert. Meine zwischenzeitlichen Recherchen in Dresden hatten Erfolg. Hier konnte ich, so war meine Hoffnung, meine Datenverarbeitungspraxis ebenso einsetzen wie meine pädagogische Ausbildung. Immerhin hatte ich in den vier Exemplaren für Prof. Schoppan nachgewiesen, daß bei der schöpferischen Arbeit von Ingenieuren prinzipiell die gleichen Denk-Technologien zielführend sind wie im Mathematik- und im Physik-Unterricht. Zudem darf man an einer Hochschule einen schöpferischen Arbeitsanteil erwarten.


An der Ingenieurhochschule Dresden


Für die Organisation, Projektierung und Programmierung von EDV-Projekten hatte die damalige Ingenieurhochschule Dresden 1978 schon einen gewissen Lehrkörper aufgebaut. Zum großen Teil waren es gelernte Ökonomen. Für die Programmierung leistete man sich sogar einen parteilosen Professor. Jener Prof. Adler war zehn Jahre in der sowjetischen Wissenschafts-Stadt Dubna gewiß von West-Kontakten abgeschirmt gewesen. Für die in der Anfangsphase noch befindlichen Datenverarbeitung in der DDR baute man auf die ersten Absolventen von ihm. Das waren vor allem Längerdienende von der Armee gewesen. Die von diesen zu erwartende Disziplin ist immerhin e i n e Komponente für den Erfolg. Für die Praxis brauchte man zu diesem Zeitpunkt den nach Organisation, Projektierung und Programmierung notwendig werdenden Wissenskomplex: Wie bringt man die zuweilen in die Zehn- und Hunderttausende gehenden Datensätze termingerecht durch das Rechenzentrum? Die Organisation bei der zyklischen Abarbeitung kompletter Projekte mit großen Datenmengen erfordert einige gesonderte Arbeitsstrategien. Außerdem stellte sich heraus, daß sich diese Strategien je nach verfügbarer Rechentechnik und nach Betriebssystemen weiterentwickelten. Ansätze zum Rechenzentrums-Organisations-Wissen vermittelte man bis dahin allein durch Honorar-Lehrkräfte. Man brauchte eine hauptamtliche Kraft mit Industrie-Praxis.

Die Ingenieurhochschule Dresden suchte darum 1978 einen Fachmann für "Technologie und Organisation im Rechenzentrum", der ein solches Lehrgebiet organisatorisch, mit Lehrplan, Vorlesungen, Seminaren und Praktika aufbauen konnte.

In solchen Dingen sowie bei der Klärung von Konflikten zwischen Mitarbeitern im eigenen Haus war Prof. Tzschoppe auch ohne Blick ins rote Büchlein integer. Ein Interesse an der Weiterentwicklung kann man ihm nicht absprechen, obwohl er selber sich dem Erwerb von mathematisch orientiertem Spezialwissen verweigerte - das totale Gegenstück zu Prof. N. Wirth in Zürich. Dies extrapolierte er auch auf das neue Teilgebiet "Rechenzentrums-Technologie". So rutschte ich als Parteiloser in eine Hochschule hinein. Hier gab ich erstmals bei einer Bewerbung die frühere SPD-Mitgliedschaft meiner Mutter und ihren Austritt 1949 im obligatorischen Fragebogen an. Die zuständige Bearbeiterin im Personalbüro, Frau Gyrndt, hatte das entweder akzeptiert oder nicht gesehen. Anfangs wollte man mich im Rechenzentrum unterbringen. Als ehemaliger Leiter Programmierung und doppelter Hochschul-Absolvent war jedoch mein Ausgangs- und damit Übernahmegehalt zu hoch, um in die Rechenzentrums-Struktur hineinzupassen. So wurde ich einziger Mitarbeiter des neu aufzubauenden Lehrgebietes „Technologie und Organisation im Rechenzentrum“.

Und weil ein Seminargruppenberater mit seiner Seminargruppe nicht klar kam, durfte ich ungewollt und quasi über Nacht die Betreuung einer Seminargruppe schon nach wenigen Arbeitstagen übernehmen.


Der Oberassistent des Nachbar-Lehrgebietes, Dr. Löwinger, hatte eine Absprache mit seinem Praxispartner in dem VEB Starkstromanlagenbau "Otto Buchwitz", Herrn Hörnig, vereinbart. Ich bewarb mich um die Mitfahrt in den Betrieb. Dr. Löwinger und ich fuhren zu Herrn Hörnig. Im Rahmen der Begrüßung stellte ich auch meinen Namen vor. Erstaunt kam die Rückfrage: "Der von den UNI-Programmen"? So kam ich zu einem Praxispartner meiner Programme mit Großanwendung in Dresden. Jenes Nachbarlehrgebiet hatte noch nicht bemerkt, mit welchem Programmsystem ihr Praxispartner seine Projekte abarbeitete. Herr Hörnig war Doktorand bei Prof. Tzschoppe. Also hielt sich Herr Hörnig beide Optionen offen – Abstimmungen mit Prof. Tzschoppe und mit mir. In meiner Umgebung orientierte man auf manuelle Wege zur Sicherung der Organisation im Rechenzentrum. Ich schloß programmtechnische Schritte mit ein unter Nutzung von Dienstprogrammen, Systemeingriffen und einem System von Typlösungen für Abarbeitungsprogramme, genannt UNI-Programme (s.o.), über die ich seit 1970 jährlich je einmal in der Fachzeitschaft "Rechentechnik/Datenverarbeitung" berichtet hatte. Mein Vorgesetzter, Professor Tzschoppe, war zugleich Dekan bzw. Sektionsdirektor und beschäftigte sich noch mit SOPSen, wobei die "heißen" Programme durch Makro-Generierung erzeugt wurden. Dabei waren die Makros vorher zu programmieren und in die Makro­-Bibliothek zu überführen. Der Prozeß der Generierung verbrauchte derart viel Rechenzeit, daß unsere damalige Rechentechnik vor Abschluß eines Generierungslaufes meist in die Knie ging.

Dafür gab es prinzipielle Ursachen: a) Die Mehrzahl der Professoren der Sektion Informationsverarbeitung waren Ökonomen. Obwohl ich einzelne "partei-treue" Studenten nach meiner Unterrichts-Stunde am Zimmer des Parteisekretärs sah (eigenes Zimmer!), konnte ich meine einzelnen Witzeleien fortsetzen: Warum tragen Ökonomen Rollkragen-Pullover? Damit man das Holzgewinde nicht sieht. b) Fast alle Professoren der Sektion Informationsverarbeitung waren Absolventen der TU Dresden. Nicht so schlimm - Hauptsache in der Partei! So konnte ich mir den Spaß erlauben, meine Arbeitsstelle als Außenstelle der Fachschule für Ökonomie in Rodewisch einzuordnen. Und es passierte nichts. Für den Fall, daß man mir an den Kragen wollte, hätte ich mich auf meine Beiträge zur „ökonomischen Stärkung“ berufen. Maschinenstürmerei führt ohnehin nicht zum Ziel. Unter „Revolutionstheorie“ nachzulesen, sollte sich fortan noch mehr lohnen.


Bei meinen UNI-Programmen ruckte der Rechner keine drei Sekunden zwischen Eingabe der Parameter und Eingabe der zu bearbeitenden Daten und damit der eigentlichen Verarbeitung. Ich habe meine Lösung mehrmals in Zeitschriften und Vorträgen vorgestellt. Jeder EDV-Nutzer hatte die Freiheit zu entscheiden, ob er mein Zeug benutzen will. Immerhin kamich mit Prof. Tzschoppe von der Form her recht gut aus, er ließ mich machen, sofern ich nur meine Lehraufgaben schaffte. Von einem Ökonomen konnte man das Verstehen der Funktionsweise der UNI-Programme nicht verlangen. Jeder muß ohnehin zuerst sein eigenes Arbeitsgebiet beherrschen. Also konnte und mußte ich mit dem Zustand zufrieden sein.


Ich bemühte mich, die mir gestellten Ziele maximal zu erreichen. Zur Auflockerung des Unterrichtes setzte ich Resagsche (s.u. ABF) Witzeleien ein, Bezugnahmen auf das gestrige Fernsehprogramm samt der politisch anzüglichen Sprüche von Eberhardt Cohrs oder O.F. Weidling, Ökonomenwitze - immerhin waren an dieser technischen Bildungseinrichtung fast alle Lehrgebietsleiter nicht nur Genossen, sondern auch Ökonomen. Haben die Studenten meine Bezugnahmen nicht verstanden? Jedenfalls habe ich stets gewußt, wie weit ich gehen durfte. Nach dem Vorbild von Ludwig Renns "Spanischer Krieg" fehlt am kommenden Tag jeder Mann, der heute den Helden markieren wollte und vom Gegener getroffen wurde.


Recht argwöhnisch wurde ich von Frau wissenschaftlicher Sekretär Felicitas angesehen. Sie gehörte zu einer Kaffeerunde, die für ihre "wissenschaftliche Arbeit" keine geschlossenen Zeiten brauchte. Meine Gehaltsgruppe, die ich nach dem zweiten Hochschulabschluß erreicht hatte, führten bei einigen "Kollegen" zu Konkurrenzgedanken. Frau Felicitas delegierte mich zum hochschul­pädagogischen Kurs, wo gewiß Systemtreue das wichtigste Ziel war. Ich wies auf mein pädagogisches Examen und auf den Arbeitsumfang beim Konzipieren und Ausgestalten eines neuen Lehrgebietes hin. Damit umging ich diese Aufforderung. Und mir passierte nichts.


Von der Kaderabteilung bekam ich einen Hinweis, wie ich meinen Wohnungstausch auf einem betriebsinternen Weg evt. lösen könnte: Noch-Dr. Eckardt (Informationstechnik/Hardware) hatte eine Professur in KMSt erhalten und brauchte somit eine Wohnung in KMSt. Er bot eine Vorstellung seiner Wohnung in Dresden-Blasewitz an. Zu dieser Wohnung gehörten sechs Zimmer. Wir fuhren mit seinem Auto dorthin. Seine Fahrweise zum Vororttermin führte uns durch Nebenstraßen - hallo! Ich hatte den Eindruck, daß er für seine Erfinderarbeit jede Minute brauchte. Zumindest deutete sein Fahrstil derartiges an. Aus diesem Tauschangebot wurde jedenfalls nichts.


Während die Professoren der Humboldt-Uni Praxiszeiten in Dessau, Emden und Peenemünde (soweit mir bekannt) vorweisen konnten, waren außer Prof. Adler und der später hinzugekommene Prof. Garbe (soweit mir bekannt) hier an der Software-Sektion die Professoren nur mit Elbewasser getauft worden. Immerhin war es bei den Handwerksburschen im Mittelalter Brauch, auf Wanderschaft zu gehen, um Technologien aus anderen Ländern im eigenen Revier zur Wirkung zu bringen.


Auf dem Parkplatz beobachtete ich eines Tages Dr. Wissmann, den ehemaligen DDR-Segelflugmeister beim Rückwärts-Einparken. Er war Jahrs zuvor vom Apfelbaum "geflogen" – sprich: beim Apfelpflücken abgestürzt. Nach längerer Krankheit war nun beim Rückwärtsfahren die Kontrolle nur über die Rückspiegel seines TRABANT möglich. Wir kommen nach diesem Manöver ins Gespräch. Er führte bei der Kampfgruppe eine Art Brigadetagebuch. So kam das Gespräch letztlich auf wechselnde Parteimitgliedschaft. Dazu hatte er eine ganz nüchterne Erklärung: Das sind die gefügigsten Werkzeuge in jedem neuen politischen System.


Die Taktik, auf breiter Front gegen „gefügige Werkzeuge“ u.ä. anzustehen, habe ich hier vom ersten Tag an unterlassen. Dabei hatte ich vorher es mir nur getraut, die Arbeitsergebnisse „gefügiger Werkzeuge“ anzuprangern. Von hier an habe ich mit jenen, die sich um fachliche Arbeitsergebnisse, dabei etwas Funktionierendes und Verkaufsfähiges bemühten, möglichst gut gestellt. Im Minimalfall tolerierte ich auch pädagogische und sportliche Fähigkeiten. So rechnete ich mir mehr Chancen aus, auch weiterhin Einfluß in der studentischen Ausbildung zu haben.


Als ich auf der Basis meiner Veröffentlichungen in der damaligen Fachzeitschrift "Rechentechnik/Datenverarbeitung" über das Programmsystem UNIPRO (oder Teilen davon) zu Vertragsanbahnungen kam, wurde ich von einem aufgeregten Wissenschaftsbereichsleiter (natürlich SED-Mitglied) regelrecht überfallen. Wie könnte ich es mir erlauben, die Hochschule in Regreßforderungen zu verstricken. Er hatte vorher bei ROBOTRON (natürlich in Dresden) gearbeitet. Offenbar hatte dort der Justitiar viel Arbeit bekommen, weil die ROBOTRON-Erzeugnisse nicht das hielten, was sie versprochen hatten. Immerhin hatte ROBOTRON eine gute Kampfgruppe und im Betriebsgebäude einen eigenen Friseur. Wenn alle DDR-Betriebe so gearbeitet haben, mußte die DDR ja zwangsläufig Pleite machen. Meinem unmittelbaren Vorgesetzten der letzten Zeit vor der Wende hatte ich einige Male solche Sorgen vorgebracht - natürlich nur "im Interesse des Systems". Bei anderer Gelegenheit, als etwas schief gelaufen war: "Die im Westen sind viel zu arm. Die können sich eine solche Arbeitsweise nicht leisten." Noch ein Wort zur Aufregung des WB-Leiters: Ich konnte ihn – zwar nur schrittweise – beruhigen. Die Vorläufger-Programme, die ich in Berlin realisiert hatte, funktionierten in etlichen Betrieben. Ich habe bis heute nie etwas von Regreßforderungen gehört. Im Gegensatz zu den meisten ROBOTRON-Mitarbeitern brauchte ich nicht zur Kampfgruppe, konnte mich also in meiner Freizeit voll auf diese Programme konzentrieren.


Zur angeblichen Verbesserung der Arbeit erhielt die Abteilung Marxismus-Leninismus einen höheren Stellenwert - sie wurde Institut. Wenn man wenigstens mit seinem ML-Wissen Beiträge für wirtschaftliche Erfolge erbringen würde. Hauptsache der eigene Status wird gegenüber Mathematik deutlich herausgestellt! Dann mußten auch die parteilosen Kollegen einmal monatlich an den "Schulen der sozialistischen Arbeit" teilnehmen. Das konnte man als Parteilehrjahr für den Rest bezeichnen, der Nachhilfe nötig hatte. Die meisten Kollegen und Kolleginnen schauten stumpf vor sich hin, ließen den ML-er reden und dachten offensichtlich an jene Aufgaben, die sie statt dessen jetzt betreiben könnten. Ich versuchte, den Vortragenden mit meinen Kenntnissen über Geschichtsdaten in die Enge zu treiben. Immerhin paßten einige Geschehnisse nicht in das Bild der Theorie, die man uns vorgaukeln wollte. Da der Beauftragte Dr. Dietel die vor ihm Sitzenden immerhin nicht für dumm verkaufen und diese Stummheit auflösen wollte, ließ er einige Internas gucken, die nicht in der Zeitung standen. Dazu gehörte Honeckers Rede vor den ersten Kreissekretären, in der er zugab, daß viele DDR-Produkte im Westen (und damit unter freier Preisgestaltung) unrentabel, teils sogar zu 20 % der Herstellungskosten verkauft wurden. Im Frühsommer 1989 kannte seine "Offenheit" und Kollegialität keine Grenzen: Er berichtete, daß in gewissen staatlichen Kreisen von einer Regierungsübernahme durch eine Blockpartei gesprochen werde. Ich erwartete verschiedene Schritte zur Verbesserung der Lage, aber mit der schnellen Methode rechnete ich doch zu diesem Zeitpunkt noch nicht.


Feldberg


Einen Pfingstausflug hatte ich mit meiner Tochter vereinbart. Telefonischer Kontakt ab Dresden war schwierig. Also hatten wir uns brieflich verständigt. Zu diesem frühen Zeitpunkt war die Hoffnung auf ein der Jahreszeit entsprechendes Wetter zu Pfingsten groß, aber Gewißheit konnte es nicht sein. Beim Start ab Berlin sah es noch sonnig aus. In Feldberg bauten wir nur zögerlich das Zelt auf. Im Kofferradio hörten wir stündlich Wetternachrichten. Davon wurde es uns nicht besser. Es wurde naß und kalt und noch kälter. Um 23 Uhr zogen wir von dannen. Um die Fahrt nicht ganz umsonst unternommen zu haben, fuhren wir noch um Mitternacht nach Carwitz zu Falladas Haus. Zum Abschluß fühlte ich mich blamiert, weil ich meiner Tochter nur ein Null-Pfingsten geboten hatte.


Stasi in der Mazurka-Bar


Während eines Spazierganges auf der Prager Straße bei sommerlicher Hitze pausierte ich in die untere Etage der Mazurka-Bar. Ich nahm am ersten besten Tisch Platz. Mit meinem Gegenüber kam ich über Wetter und banale Alltagsfragen ins Gespräch. Auf die Anmerkung, daß es hier in der Kelleretage erträglicher als in dem Barackenbau meiner Arbeitsstelle ist, erwiderte er, daß er beurlaubt sei. Als Mitarbeiter der Staatssicherheit sei er mit der Erarbeitung einer Doktorarbeit beauftragt. Er solle die Rolle der Blockparteien im politischen System der DDR analysieren. Dabei habe er die Erkenntnis gewonnen, daß ohne weiteres eines Tages eine Blockpartei die Macht übernehmen könnte. Ich habe mir die Äußerung einer eigenen Meinung verkniffen, habe bezahlt und nach ein paar freundlichen Worten den Ort verlassen. Von dem Spiegel an der Garderobe aus sicherte ich unauffällig ab, daß mir niemand folgt.


Mutter in Zschertnitz


Meine Mutter hatte altersbedingt den Schritt von der 2 1/2- zur 2-Zimmer-AWG-Wohnung am Nürnberger Ei und dann zur Einraum-Wohnung in Zschertnitz unternommen, um damit zu Fernheizung zu kommen. Die Möglichkeit von Kontakten mit der Enkelin waren anfangs mit Hürden versehen und dann ganz unmöglich geworden. Die gesundheitlichen Probleme brachten zunehmend Einschnitte ihres Aktionsbereiches. Nach jedem Schlaganfall war täglich mehrfache Betreuung notwendig. Der Kleiderschrank stand im Flur und behinderte beim Transport zur und von der Toilette. Nach einer NaCl-Spritze kam eine Erholungsphase. Die Abstände von Anfall zu Anfall wurden immer kürzer. Den Weg zum Pflegeheim leitete sie darum selbst ein. Schrittweise hatte meine Mutter selbst den Umfang ihres Haushaltes verkleinert.


Wohnungstausch Zwinglistraße nach Dölzschen


Für Wohnung und Garage schaffte ich den Tausch von KMSt nach Dresden trotz großer Bemühungen erst zwei Jahre nach meiner Arbeitsaufnahme in Dresden. Immerhin ließ sich beides auf den gleichen Termin einrichten. Pro Wochenbeginn nahm ich eine Couch oder einen Schrank im PKW ZASTAVA nach Dresden mit, bis alles geschafft war. Die Hochhäuser waren stark dem Verkehrslärm ausgesetzt; die Garage befand sich an der Stadtgrenze nach Heidenau. Also waren weitere Tauschanbahnungen und -ausführungen vorprogrammiert.


So kam ich auch zu Frau Fischer in Dölzschen – gelegen an der Stadtgrenze nach Freital. Die Wohnung gefiel mir. 1 1/2 Zimmer mit Küche. Wanne und Kohlebadeofen waren im Keller behelfsmäßig eingebaut. Die Zentralheizung wurde nur für meine Etage eingesetzt. Von dem kleinen Zimmer ging es über drei Stufen direkt in den Garten. Dazu gehörte eine Wiese, ein Birnen- und ein Apfelbaum sowie diverses Ziergesträuch und ein kleiner Schuppen. Hier könnte man die Ruhe genießen. Zumindest der Theorie nach! Mit dem anderen Mieter im Haus habe es Probleme gegeben. Aber ich in meinem Alter würde schon mit ihm klar kommen. Mir fielen Frau Fischers zitternde Hände und ihr über Gebühr starker Bohnenkaffee auf. Bis alle Unterschriften und Stempel auf dem Tauschformular waren, fuhr ich noch einige Male hin. Meine Dresdner Tante wohnte ohnehin nur eine halbe Stunde Fußweg entfernt. So konnte das Nützliche mit dem Praktischen verbunden werden. Bei einem späteren Besuch erzählte Frau Fischer, daß sie im Johannstädter Krankenhaus über viele Jahre nur Nachtschichten gearbeitet habe, um tagsüber ihre Kinder versorgen zu können. Da habe sie sich das mit dem Kaffee so angewöhnt. Sie hatte ursprünglich in einer wesentlich größeren Wohnung im Nachbarhaus gewohnt. Ihr Mann war Architekt. Sie hatten ein kleines Auto besessen. Natürlich, so sagte sie, sei ihr Mann Mitglied der NSDAP gewesen wie alle, die in dieser Zeit etwas werden wollten, so ihre Darstellung. Er arbeitete für das Festungsbau-Unternehmen Todt. Unter den Kollegen war einer Kommunist gewesen. Dieser habe kurz vor Kriegsende zur Dienstverweigerung aufgerufen. Ihr Mann habe dem auf Dienstreise befindlichen Chef dazu eine Aktennotiz hinterlassen. Am nächsten Tag war ihr Mann auf Reisen. Sein Chef habe sofort nach Kenntnis dieser Aktennotiz die Gestapo angerufen. Der kommunistische Kollege wurde abgeholt und nie wieder gesehen. Nach dem Krieg war die Firma am Wiederaufbau wichtiger Bauten beteiligt. Doch eines Tages wurde ihr Mann von zwei Polizisten mit Karabiner abgeholt. Als die Gerichtsverhandlung gegen ihn stattfand war sein Chef schon wieder auf freien Fuß und hat Frau Fischer Mut auf eine niedrige Strafe gemacht. Das Gericht habe nur aus Opfern des Naziterrors bestanden. Entsprechend sei die Strafe ausgefallen. Zur Strafverbüßung sei er nach Stollberg gekommen. Am Ende habe sie ihren toten Mann aus dem Keller der Vollzugsanstalt abholen dürfen, wo er unbekleidet gelegen habe. Jetzt war mir klar, was diese Frau zum Zittern gebracht hatte.


So Stück um Stück richtete ich mich in dieser Wohnung ein. Der Kohlebadeofen war nicht mehr zeitgemäß. Ich stellte die Warmwasserversorgung für Küche und Behelfsbad auf Gasdurchlauferhitzer um. Am südseitigen Kellerfenster zog ich mir Chicorée und allerhand Frühlingsblüher heran. Meine ersten Erfolge im Mauern erzielte ich beim Bau eines kompakten Frühbeetes. Auch die Garage tauschte ich erst von KMSt nach der Heidenauer Stadtgrenze, von dort an die sehr stark befahrene Leipziger Straße und letztlich in eine etwa dreihundert Meter von meiner Wohnung entfernte Garagengemeinschaft. Diese Garage war sogar verlängert. Damit paßte hinter den ZASTAVA noch ein Anhänger. Ich kaufte mir einen kombinierten Lasten- und Bootsanhänger. Aus 0,8 mm dickem verzinkten Stahlblech baute ich mir auf den Lastenteil einen 1,3 m breiten, 1,3 m hohen und 2 m langen Aufbau. Erst zwei Jahre später kam vorn ein Fenster- und Lüftungsteil dazu. Einige Male startete ich an einem Freitag per Feierabend zu einer Tour. Für den dann vor dem Arbeitsgebäude parkenden Anhänger bekam ich von meinen Kollegen sogar mehr Zuspruch als für meine eigentliche Arbeit. Besonders der ehemalige FDJ-Sekretär Gasch war des Lobes voll. Natürlich hatte ich als gelernter Metallflugzeugbauer je 90-Grad-Kantung die Verkürzung beachtet. Bei 45 Grad die Hälfte davon. Jeder Einschnitt war abgebohrt, um Haarrisse zu vermeiden. Gefahr war bei 115 km/h geboten. Nach ruhiger Fahrt bis 114 km/h drohte man plötzlich samt Anhänger in den Straßengraben zu fliegen. Ansonsten verliefen Erprobung und Nutzung erfolgreich.


Gefährlicher PKW-Anhänger


Als ich in Dölzschen (Dresdner Stadtrandsiedlung und ehemaliger Wohnort Victor Klemperers) wohnte, hatte ich einen Mitbewohner namens Pötzsch im Haus, der als ehemaliger Berufsschullehrer diesen Beruf nicht mehr ausübte. Offenbar (und nach Äußerungen anderer) beurlaubt. Lt. Gauck-Nachweis ist er ohne Aufforderung am 13.11.85 zur Staatssicherheit gegangen, um ihr u.a. mitzuteilen, daß ich mir selbst einen PKW-Anhänger gebaut habe, in dem man mehrere Personen transportieren könne, wobei er von seiner Wohnung aus nicht sehen könne, ob jemand und wenn ja, wer in meinem Anhänger sitze. Die Stasi hat dazu zwar ein Protokoll angefertigt. Das war wohl sogar denen zu fett. Heute ist mir bekannt, daß ich vor dem 13.11.85 in der Abteilung XII der Bezirksverwaltung Dresden und in der VSA der Objektdienststelle TU/H nicht erfaßt war. Der Abschlußbericht vom 4.2.86 der BV Staatssicherheit Objektdienststelle TU/H vermeldet, daß ich ab diesem Datum VSH-erfaßt sei. Wohl nicht ganz zufällig wurde ich ab dieser Zeit bei Vorfahrt an einem DDR-Grenzkontrollpunkt nach der Tschechoslowakei sehr genau kontrolliert. Obwohl man bei mir nie etwas Verbotenes fand, waren doch gerade an einem freien Tag bis zu zwei Stunden zusätzlicher Aufenthalt neben dem Herumwühlen in privaten Sachen unangenehm.

Pötzsch kam auch zu Prof. Tzschoppe, um ihm meine Untaten zu berichten. Doch dieses veranlaßte meinen Chef nur, diesen Besucher freundlich zur Tür zu bitten. Prof. Tzschoppe informierte mich mit einem mitleidvollen Lächeln über diesen Besuch. Zum Feierabend nach dem Besuch Pötschs bei meinem Chef hatte mein Auto von vorn bis hinten einen tiefen Lackkratzer. Es half keine Grübelei. Ohne Beweise lohnt keine weitere Diskussion!


Mit meiner Tochter vereinbarte ich für den Staatsfeiertag 7. Oktober und das nachfolgende Wochenende eine gemeinsame Fahrt mit Anhänger nach Prag. Wir fanden dort einen Campingplatz im Stadtgebiet. Trotz Regenwetters unternahmen wir noch am ersten Abend einen Rundgang durch den historischen Kern der Stadt. Wenn ich den Gaskocher in Betrieb setzte, bekam der enge Raum eine verträgliche Temperatur. Dann aber hing an allen Innenwänden des Anhängers Kondenswasser. Ich hätte den Anhänger isolieren müssen. Solche Außen-Temperaturen hatte der Herbst aber noch nicht geboten, um diesen Effekt vorher testen zu können. Gegen Morgen wurde es noch kälter. Unter den Federbetten kein Frieren. Aber von der Decke tropfte Kondenswasser. Am nächsten Abend fuhren wir heimwärts. Immerhin hatten wir uns doch mal wieder etwas in der Goldenen Stadt umgesehen und auch etwas eingekauft.


Vom Böhmerwald nach Königsbrück


Kollege Krüger arbeitete in dem für Datenbanken zuständigen Lehrgebiet. Er verbrachte seinen Urlaub auf tschechischer Seite im Böhmerwald. Während dieses Urlaubes hielt er sich mehrfach in unmittelbarer Nähe zur West-Grenze auf. Auf der Rückfahrt filzte man ihn am Grenzkontrollpunkt Zinnwald besonders. Die Suche war aber erfolglos. Jedenfalls durfte er nach der Inspektion weiterfahren. Einige Tage später fuhr er gegen Abend in die Königsbrücker Heide und hielt außerhalb jeglicher Ortschaft an. Genau in dem Augenblick, da er Gegenstände im Wald vergraben wollte, ergriff man ihn. Die Gegenstände gehörten einem Freund, der eine "Republikflucht" vorbereitete. Also wurde aus nächtlichem Schaufeln im Wald Beihilfe zur Republikflucht. Das hatte üblicherweise zwei Jahre Freiheitsentzug zur Folge. Neben dieser Strafe war ein Einsatz als Lehrkraft nach der Haft ausgeschlossen.


Transistor-Paul


Einen Vortrag hielt Prof. Paul über seinen Aufenthalt in den USA. Er zeigte per Dia den Arbeitsplatz eines japanischen Professors in seiner amerikanischen Gastgeber-Universität. Das sah wirklich dürftig aus. Prof. Paul fügte aber auch hinzu, daß bei Verträgen mit der Industrie oder beim Verkauf von Patenten ganz andere Möglichkeiten bestehen. Er zeigte auf Diaprojektionen unverschlossen abgestellte Autos im Universitätsgelände. Ein halbwegs neues Fahrrad hingegen wurde angekettet. Immerhin gab es zu dieser Zeit bei uns Autos nur auf langjährige Anmeldungen. Er berichtete von abendlicher Rückkehr in den Campus, der um diese Zeit abgesperrt war. Nach Anmeldung wurde er unter Polizeischutz zu seinem Wohnobjekt gebracht. Obwohl dieser Vortrag keine fachlichen Details beinhaltete, war der Hörsaal voll und alle lauschten gespannt. Einige Monate später hörten wir von Prof. Pauls dritten Reise in die USA, von der er nicht in die DDR zurückkehrte. Das kündigte er in seinem Vortrag allerdings nicht an.


BRD-Ausstellung in Dresden


In einer Ausstellungshalle am Fucikplatz (heute Straßburger Platz) fand in Dresden erstmals eine Ausstellung der BRD statt: "Stadtpark - Parkstadt". Im Mittelpunkt stand die Altstadt-Sanierung. Für die Altstadtkerne wurden interessante Lösungen für die Gestaltung von Wohnungen und Höfen gezeigt, wobei eine Verbesserung des Wohnumfeldes gegenüber der Heinrich-Zille-Zeit als Ziel vorgegeben war. Allein die Aufmachung war einfach eine Klasse sauberer als es bei uns im Osten Standard war. Offenbar hatte man bessere Technik zur Verfügung. Die Architektur stellte sich der Aufgabe, die historischen Straßenzüge zu erhalten, wobei es für die Bewohner eine gesündere Umgebung werden sollte. Bei uns herrschte noch die Linie vor, mit Großplatten bei wenig Arbeitskräfteaufwand den Wohnungsmangel zu beseitigen. Die Altbau-Sanierung wurde zwar oft beschworen, war aber auf wenige geschlossene Ensembles begrenzt. Genannt seien für Berlin die Schönhauser Alle, Dimitroffstraße und der Altbauteil der Frankfurter Alle. Jedenfalls zeigte die Ausstellung, daß im Westen auch nur mit Wasser gekocht wird, am Ende aber doch mehr Wohnqualität und ein besseres Stadtbild erreicht wird.


Afghanistan


Für einige Zeit hatte ich eine junge aus der Ukraine stammende Frau als Zimmerkollegin. Die aufgeschlossene und ehrliche Art beeindruckte mich. Ihr Mann hatte in Kiew studiert. Aus dem Studienaufenthalt war eben mehr geworden. Ihr Name wurde bei uns auf Russisch geführt. Unter vier Augen erfuhr ich ihn auf Ukrainisch – ein e wurde zu i. Ihr Vater war wegen eines guten Schulabschlusses von der Schule weg zur kasernierten Bereitschafts-Polizei kommandiert worden und zum Offizier aufgestiegen. Er war in Lemberg (Lwow) nach dem Krieg eingesetzt gewesen. Eine polnische Krankenschwester hatte, wie die Kollegin mir berichtete, ihre Zwillingsgeschwister kurz nach der Geburt offenbar aus Rache für die Eingliederung Lwows in die Sowjetunion umgebracht. Das hatte in der Familie natürlich nachhaltige Spuren hinterlassen.


Eines Tages berichtete ich ihr, daß ich im West-Fernsehen einen in Afghanistan abgeschossenen Hubschrauber gesehen habe. In unserer Zeitung war zu diesem Zeitpunkt der Grund für den Einmarsch der Sowjetarmee heruntergespielt worden. Diese Meldung zeigte aber mehr. Die Erwiderung meiner Zimmerkollegin lautete: "Koll. Feig, das ist Krieg".


Neuer Chef


Prof. Garbe wurde als bisheriger Chef des ROBOTRON-Rechenzentrums zum Chef des bisher von mir betreuten Lehrgebietes für Rechenzentrums-Technologie berufen. Zwischenzeitlich war noch jemand auf die freie Oberassistenten-Stelle gesetzt worden. Prof. Garbe kam in dieses Lehrgebiet als Dr.rer.oec.. Und natürlich SED-Genosse! Immerhin hatte er Rechenzentrums-Praxis-Luft geschnuppert. Seine fachliche Arbeit war stark von Systematik und Anerkennung der Arbeit anderer geprägt. Das betraf speziell die mathematische Kompetenz seines früheren Kollegen Dr. Gruhl. Das war ein Fortschritt.

>> START

Sekt:

Roter Sekt


Zum Jahrestag der Oktoberrevolution schenkte unser Vertrauensmann Dr. Hartmut Schulz während einer Gewerkschaftsgruppenversammlung roten Sekt ein. Unser „kleiner“ Chef Dr. Sobotta schluckte es. Als dieser Akt im Brigadetagebuch von Prof. Garbe bemerkt wurde, witterte er schlechte Absicht. Nun darf keiner mehr sagen, daß alle SED-Genossen nur zum Überspielen fehlender Intelligenz in die Partei eingetreten wären! Er hat immerhin bemerkt,daß mit dem roten Sekt etwas Hintergründiges im Spiele war. Später stieg Prof. Garbe zum Sektionsdirektor auf. Verantwortlicher Vorgesetzter wurde für mich Dr. Löhr – zugleich Abteilungs-Parteigruppen-Sekretär. Hatten SED-Studenten ihm etwas gesteckt oder war es Neid auf meinen fachlichen Weg? Daß er mich etwas schief ansah, hatte er für umsonst. Dann mußte ich aber feststellen, daß ich das dritte Jahr nacheinander keine Beurteilung erhalten hatte, wie es halt Vorschrift war. Darum habe ich eine Eingabe an den Dekan geschrieben mit dem Abschluß: entweder ich verlasse schweren Herzens die TU oder ich komme in eine Struktureinheit der TU, in der auch richtig gearbeitet wird – in der Hoffnung, daß die dortigen Kollegen keine Zeit zum Tratschen haben. Dr.rer.paed. Müller gab dem Dekan den Ratschlag, mich an der TU zu halten und mich bei Dr. Sobotta (OPS) einzuordnen.


Vorahnung oder Gewißheit?


Dr. Sobotta wurde als Lehrgebietsleiter "Betriebssysteme" (engl.: operation systems) am Ende einer Lehrgebiets-Besprechung von Kollegin Eiselt gefragt: "Dr. Sobotta, Sie glauben doch nicht etwa, daß sich dieses System noch lange hält." Ich hielt den Atem an. Aber es passierte nichts.


Bei meinem Eintreffen im Arbeitsgebäude hielt sich alle Tage Kollege Molli im Eingang des Gebäudes auf, obwohl von unseren Ökonomen kein einziger in den Westen abgerückt war. Am Mittagstisch gab er einmal von sich, daß insbesondere intelligente Leute nach dem Westen gehen. Aha! Meiner Meinung nach waren die Dummen immerhin so schlau, daß sie ihre beruflichen Chancen im Westen einigermaßen real einschätzen konnten – und blieben hier.


Als ich zu einem Lehrervergnügen von Bekannten eingeladen war, wurde mir ein Schauspieler und eine attraktive Staatsbürgerkundelehrerin vorgestellt - ein Ehepaar. Er hatte einmal auf der Bühne eine Abwandlung vom Dichterwort gebraucht, die als staatsfeindlich deutbar war. So hatte man ihn zum Puppenspieler degradiert. Vor Kindern konnten eventuelle politische "Entgleisungen" keine größeren Wirkungen haben. Das Paar hatte Ausreiseantrag gestellt. Auch solche Leute waren von dem verbreiteten Polit-Virus betroffen.


Auf eigenem Grund und Boden


Meine 1955 verstorbene Großmutter hatte mir mehrfach den Lehrsatz gesagt: "Wenn schwierige Zeiten kommen, geht man in die Sachwerte, sofern man hat."


Im April 87 unterschrieb ich nach langen vergeblichen Versuchen einen Vertrag für ein eigenes Grundstück mit Haus und Nebengelaß in Coswig zwischen Dresden und Meißen. Zum Zustand dessen: Nur noch jede dritte Zaunslatte war mit dem Riegel verbunden. Schimmel war im Keller auf der Seite, wo sich die Klärgrube befand. Unter den Fenstern waren Staubringe. Immerhin waren diese nicht feucht. Der Dachstuhl war vom Betrieb der oberen Mieter erneuert worden. Diese Mieter waren inzwischen Eigenheimbauer. Ihr Einzugstermin in das neue Eigenheim und damit die Freimeldung dieser Wohnung wurde immer wieder verschoben. Unten wohnte eine Rentnerin. Das Seitengebäude war baupolizeilich gesperrt.


Mutters Traum vom "kleinen Häuschen" hat sie nicht mehr erlebt. Für 9.900,- D-Mark kann man nicht mehr Qualität als ich sie hier vorfand verlangen. Dafür begann nun nach Feierabend ein zweiter Arbeitstag. Von dieser Arbeit hatte ich aber selbst einen Nutzen.


Information über Profilierung kritischer Gruppen


Gegen 22 Uhr kam regelmäßig mein Hinterlieger-Nachbar per Wegerecht durch mein Grundstück. Er heizte um diese Zeit sein Gewächshaus an. Beim Durchgang kamen wir fast täglich zu einen Plausch über Gott und die Welt. Er - Mitarbeiter der evangelischen Kirche (einzige größere unterstützende Kraft auf dem Weg zur Demokratie) - war über Absprachen und Initiativen für diesen Weg mit vernünftigen Mitteln informiert. Viele andere Menschen brüllten ihren Frust ins Bierglas. Davon verbesserte sich nichts!


Für eine der beiden Töchter meines Kollegen Dr. Schulz fand im Dresdner Kulturpalast die Schulabschlußfeier statt. Unten auf der Straße zogen Menschen vorbei, die sich offen als Ausreiseantragsteller bekundeten. Sie gingen gruppenweise nacheinander. So konnte die Polizei dies nicht als Demonstration einstufen.


Bulgarienfahrt 1989


Für die Urlaubsfahrt wurde das Auto am Vorabend Präpariert und beladen. Die Lehne der hinteren Sitzbank blieb zuhause. Unnötiger Ballast. An der Grenze zwei Stunden Durchsuchung, aber ohne Beanstandung. Dann ging es richtig los. Ab Teplitz nahm ich einen Tramper mit, der nach Prag fahren wollte. Er wußte einiges über systemkritische Gruppen. Bei der Durchfahrt durch das Prager Zentrum begann das Auto zu zischen. Dampf quoll unter der Motorhaube hervor. Also steuerte ich eine mir für diesen Typ empfohlene Werkstatt an. Heute keine Annahme mehr! Also suchte ich mir ein akzeptables und ruhiges Plätzchen für die Nacht. Am nächsten Tag in der Werkstatt: Man gab sich Mühe. Trotzdem war eine Übernachtung in der Nähe der Werkstatt ohne vorgespanntes Auto im Anhänger notwendig. Einige Bürokratie war im Stadtzentrum wegen der Versicherung zu erledigen, weil die Reparatur mit tschechischem Geld zu bezahlen war, wovon ich einen solchen Betrag nicht bei mir führte und nicht führen durfte. Am nächsten Abend ging es unmittelbar nach Fertigstellung der Reparatur mit frischen Kräften noch ein kräftiges Stück in Richtung Bratislava weiter.


Am Ortsende von Szeged wurde man freundlich auf einen privaten Campingplatz geleitet. Das war eine Neuerung. In der Anmeldung gab es zuerst einen Schnaps. Die Wege waren aufgeweicht. Andererseits sah man im Gegensatz zu den staatlichen Plätzen erste Fortschritte bei den Sanitäranlagen. Bei der Einreise nach Rumänien wurde uns eine mehrstündige Wartezeit im Bereich der Grenzabfertigung zugemutet. Nach den ersten zwei Stunden begann ich mitten in der Kontrollzone Kartoffeln zu kochen. Es war immerhin Mittagszeit. Mit mehreren Wartenden kam ich ins Gespräch. Mein Eigenbau-Anhänger fand dabei besonderes Interesse. So mußte ich die technischen Details preisgeben. Zwei junge Männer arbeiteten ebenfalls an der TU Dresden. Sie waren Maschinenbauer aus dem Nachbargebäude. Ihr Ziel war das Retezat-Gebirge. Das besuchte ich erst auf der Rückfahrt. Am Ende der Grenzabfertigung gab es Benzintalons zu kaufen. Da es aber von Jahr zu Jahr mit dem Benzin schlechter wurde, merkte ich auf der Weiterfahrt, daß in diesem Jahr selbst diese Talons keine Versorgung mit Benzin gewährleisteten, selbst wenn die Tankstelle noch über eine Notreserve verfügte. Über meine Aufenthalte bei Familie Weber in Caransebes habe ich schon an anderer Stelle berichtet.


Auf dem Campingplatz östlich von Baltschik stellte ich den Anhänger mit dem kleinen BARKAS-Fenster in Richtung Norden. So konnte ich neben türkischen auch heimatliche deutschsprachige Sender mit dem Kofferradio hören. Just an diesem Tag hörte ich von dem Wahlsieg Masowietzkis in Polen. Den polnischen Nachbarn gab ich diese Meldung weiter. Die wollten es mir nicht glauben. War es mit dem Sprit durch Rumänien auf dem Hinweg schon kompliziert, so mußte man unter den neuen Umständen mit mehr Schwierigkeiten auf der Rückreise rechnen. Vorerst besuchte ich das nahe Schloß Baltschik mit seinem herrlichen Park samt seinen Wasserläufen, Amphoren, Kakteen und den in die Natur eingepaßten kleinen Baulichkeiten. Der Strand am Campingplatz lag in einer Bucht. In der Mitte waren Betontetraeder abgeworfen worden. Mit verschiedenen Schwimmstilen näherte ich mich dieser künstlichen Insel. Ich zählte die Kraul- oder Butterfly­Schläge. Meine Leistung wurde täglich besser.


In der bulgarischen Stadt Russe an der Donau waren mehrere Tankstellen neu gebaut worden. So war es ein Lotteriespiel, eine voll dienstfähige Tankstelle zu finden. Immerhin war ich am späten Abend nach Non-stop-Fahrt von Baltschik bis Russe mit dem letzten Liter Benzin. Der zusätzliche Zeitaufwand zum Tanken war zwar ärgerlich, aber letztlich nach Stunden auf bulgarischer Seite doch noch erfolgreich. Mitten im Niemandsland war für mich um Mitternacht restlos Schluß, weil die rumänischen Grenzer und Zöllner den Dienst über Nacht einstellten. Während in der rechten Spur keine Bewegung war, überholten auf der Gegenspur etliche, - meist polnische - PKWs die Wartenden. So konnte es sein, daß wir am nächsten Morgen erst die Abfertigung dieser polnischen Spur abzuwarten hatten. Also setzte ich mich mit meinem Gespann auf die Gegenspur. Ein tschechischer FAVORIT-Fahrer spielte mit. Kam in der Gegenspur ein Fahrzeug, so rangierten wir derart, daß dieser durchkam. Andere blockierten wir. Dann kam einer in Richtung Rumänien und machte deutlich daß er Diplomat sei. Funkgerät hatte er offenbar nicht. In der Finsternis war sein Diplomatenausweis nicht zu erkennen. Aber bis zum Scheinwerfer ließ er uns mit dem Ausweis nicht. So mußte er warten, bis er dran war. Er beschwerte sich mit der Feststellung, daß dies Demonstration sein. Er war offenbar auf einen solchen Fall trainiert worden. So mitten im Niemandsland war er machtlos. Er fuhr offenbar täglich die Strecke zur Arbeit nach Bukarest.


In den Westkarpaten besuchte ich eine Schneehöhle und kam mit einem Chemiker-Ehepaar aus Bukarest ins Gespräch. Als diese Leute Schafskäse direkt beim Schäfer einkauften, schloß ich mich an. Der Käse reichte ein Weilchen. Ich sah, wie die Senner auch bei Hitze fleißig ihrer Arbeit nachgingen. Auf einen grünen Zweig kamen sie wohl trotzdem nicht.


An der Fischerbastei in Budapest zeigte das friedliche Spiel eines westdeutschen Orchesters ganz im Gegensatz zu den Bildern in Rumänien eine mitteleuropäische Zivilisation. Von einer Fluchtbewegung von DDR-Bürgern war hier nichts zu merken.


Etwa in der Höhe Brünn merkte ich, daß mir etwa fünf Liter Benzin zum Erreichen von Zinnwald fehlten. Ich hatte aber nicht mehr genügend Kronen. Für Ost-Mark durfte an den Tankstellen nicht bezahlt werden. Selbst auf dem Polizeirevier zuckte man nur mit den Achseln. Dieser Tag - ein Sonntag und außerdem Auto-Renntag in Brünn - war zugleich mein letzter Urlaubstag. Dann setzte der Rückreiseverkehr vom Autorennen her ein. Auf einem Parkplatz fand ich einen DDR-Bürger, der mir fünf Liter abgab. Hier konnte ich auch sicherer den Restbedarf bestimmen. So war auch der pünktliche Arbeitsbeginn am nächsten Morgen gesichert.


Besuch aus Bulgarien


Eines Tages fand ich zum Feierabend eine Postkarte von Bekannten aus dem rumänischen Brasov vor. Bei ihnen hatte ich eine rumänische Hochzeit mitgefeiert. Die Karte war in Berlin aufgegeben. Sie kündigten ihren Aufenthalt in Dresden an. Als Treffpunkt schlugen sie das Hotel Lilienstein und einen Tag im Oktober vor. Dann kam der Anruf vom Hotel Lilienstein. Ich fuhr hin. Zuerst waren sie auf Stadtrundfahrt. Dann kamen sie zurück. Unmittelbar nach der Begrüßung raunten sie mir zu, daß sie in Berlin eine große Demonstration gesehen hätten. Um Gottes Willen! Jesus Maria! Zu dieser Zeit brachten bereits die DDR-Medien vorsichtige Meldungen über solche Vorgänge. Zur richtigen Einschätzung war die Kenntnis der Umgebungsbedingungen notwendig. Die rumänischen Bekannten standen noch unter dem Schock der Vorgänge beim Streik der Brasover Traktorenwerker. Darum fühlten sie sich unsicher. Und rumänische Aufpasser hatten sie auch mit.


Erfolgreiches Promotionsverfahren


Anfang und Ende September 1989 hatte ich Fernstudenten zu betreuen. Zwischendurch war die Dokumentation für die Darstellungsschicht-Instanz eines Rechnernetzes für den Leitbetrieb des VEB Datenverarbeitungszentrum Berlin von mir fertigzustellen und zu übergeben. Aber mit dem ersten Oktober müßte es nun nach Jahren doch klappen, daß ich ein kompaktes Pensum für eine Dissertation auf den Weg bringe. Meine Chefs waren jetzt häufig mit anderen aktuellen Dingen beschäftigt. Nach den Zeitungsmeldungen der letzten Tage müßte ich jetzt in die Spur kommen. Konfliktpotential baute sich aber schon am nächstgelegenen schwarzen Brett auf. Immerhin konnte ich als experimentellen Teil die Arbeit für o.g. Leitzentrum nutzen. Meine Praxis mit vielseitig nutzbaren Programmen sowie mit ihrer Modularisierung hatten hier positiven Einfluß. Allerdings hatte ich schon wesentlich leichtere Englischtexte zu übersetzen gehabt als diese hier zugehörigen ISO-Standards. Letztlich konnte ich samt Lebenslauf und Veröffentlichungsverzeichnis die Arbeit komplett am ersten September 1990 abgeben.

>> START

Forum:

NEUES FORUM in Coswig


Am 25. September 1989 war aus Anlaß von 50 Jahren Stadtrecht für Coswig eine Ausstellung in der Kirche zu diesem Thema. Der Bürgermeister wollte die Ausstellung vorher sehen. Da gab es einigen Wortwechsel zwischen Bürgermeister und Pfarrer. Über das NEUE FORUM in Coswig wußte ich keine genaue Angaben. Aber zu einer Mitarbeit konnte ich mich auf einer Liste bereiterklären. Das NEUE FORUM begann sich zu strukturieren. Ich bemühte mich, mit den mir genannten Verantwortlichen für Wirtschaft Kontakt aufzunehmen. Der Todesfall eines Mitgliedes der AG Wirtschaft des NEUEN FORUMs und der Kontakt zu noch fremden Menschen in Meißen erschwerte den Arbeitsbeginn.


Der Coswiger Sport- und Geschichtslehrer Rottig forderte bei Interesse für die SPD zum Melden an einer bestimmten Stelle auf. Das NEUE FORUM tagte in der BÖRSE. Die Zweigeinheit SPD-Interessierte tagte in einem Nebenraum. Die Arbeit beschränkte sich auf Kennenlernen untereinander sowie auf einen Traditions- und Klageverein. Immerhin hatte ich mich mit dem Parteiengesetz beschäftigt. Demnach gehörte etwas mehr zu dem, was die Bezeichnung Partei verdient. Einige Fakten hatte mir mein Vater über das Parteiengesetz der Weimarer Republik berichtet. Das entsprechende DDR-Gesetz hatte fast den gleichen Inhalt. Selbst ein von mir befragter Erstunterzeichner NEUES FORUM kannte dieses Gesetz nicht.


9. November 1989 – Grenzöffnung


Fernstudenten unserer Fachrichtung wurden je Monat für eine Woche von der Arbeit freigestellt, um bei uns in Dresden die Lehrveranstaltungen besuchen zu können. Wenn die Studenten selbst ein Mini-Betriebssystem und anschließend ein zeitgemäßes Betriebssystemen für virtuellen Speicher und virtuelle Maschine laden und bedienen sollen, kann nebenher keine Auftragsarbeit für andere Kunden erledigt werden.Da ich nur an zwei bestimmten Abenden den Mainframe-Rechner entsprechend meinen Praktikums-Aufgaben nur allein für dieses Praktikum erhielt, hatte ich in solchen Wochen „volles Programm“. Die Praktika gingen u.U. bis über Mitternacht hinaus. Am 9. November 1989 wurde es nicht ganz so spät. Über den aktuellen Stand der Dinge war ich bei Beginn der Heimfahrt nicht informiert. Wegen defekter Ventile nach 150.000 km und Bauarbeiten, wartete ich am Bahnhof Dresden-Neustadt auf die Anschluß-Straßenbahn. Dabei fiel mir auf, daß ein starker Autoverkehr in Richtung Berliner Autobahn stattfand. An Geschwindigkeitsgrenzen hielt sich wohl auch keiner. Da mußte es etwas besonderes in dieser Richtung geben. Das erfuhr ich aber erst später.

An gleicher Stelle hatte ich einige Tage später einen Stehplatz in der Straßenbahn eingenommen, als ich merkte, daß neben mir der Abteilungs-Parteigruppen-Sekretär saß. Er sah ganz verzweifelt nach draußen. Ich störte ihn dabei nicht.

Erst Tage später fuhr ich mit dem Primus der von mir betreuten Seminargruppe nach Berlin. Sein Trabant war einsatzbereit. So fuhren wir bis Grenzübergang Bernauer Straße. Dann ging es zu Fuß über die Brücke und dann den Kurfürstendamm entlang bis zum ICC, zum Eisstadion und zum Funkturm. Am Ende kam noch eine Aufführung im Renaissance-Theater. Dann ging es heimwärts. Er brachte mich nach Coswig und um sieben Uhr trafen wir uns wieder auf Arbeit. Er hatte das Auto gestellt. Dafür kannte ich mich noch auf dem Ku'damm aus. Das war ein Gefühl! Wir waren „drüben“ gewesen!


SPD in Dresden und Umgebung


Nachdem im August 1989 der Gründungsaufruf und am 7. Oktober 1989 in Schwandte bei Berlin die Gründung der Sozialdemokratischen Partei der DDR stattfand, stand erst Mitte November 1989 eine kleine Mitteilung in der Sächsischen Zeitung, die zu einem bevorstehenden Gründungs-Treffen dieser Partei im Kulturpalast einlud. Wegen eines Praktikums für den nächsten Fernstudenten-Jahrgang konnte ich nicht teilnehmen. W. Rottig wollte diese Aufgabe wahrnehmen. Immerhin brachte er von dieser Veranstaltung eine Adreßliste der Erstunterzeichner von Schwandte mit. Zu einem Gründungsbeschluß hatte man es jedoch nicht gebracht. In dieser für das Land kritischen Situation wollte die Mehrheit der dort Anwesenden lieber hinter dem Ofen sitzen. Oder gehörte die Hälfte der Anwesenden einer anderen Partei an? Manipulationen diesen Kalibers habe ich in der Folgezeit erlebt.


Als ich von dem ausgebliebenen Gründungsbeschluß erfuhr, habe ich aufgedreht. Gegen Wolfgang Rottig hatte ich normaler Weise keine Mehrheit im Ortsverein. Als Sport- und Geschichtslehrer hatte er wohl einen manierlichen Umgang mit den Schülern gepflegt. Aus seinem immer wieder abgelehnten Antrag, seinen im Westen lebenden Vater besuchen zu dürfen, hatte er keinen Hehl gemacht. Auch nicht im Unterricht, wie mir auch von ehemaligen Schülern berichtet wurde.

Mir gelang es, in der Coswiger SPD-nahen Diskussionsgruppe einen Antrag auf offizielle Gründung einer sozialdemokratischen Partei auf den Weg zu bringen. Wir tagten inzwischen in einem Kellerraum der Rottigschen Schule (heute Gymnasium). W. Rottig hielt die Formalitäten ein, lud Mathias Müller, einen der Schwandte-Erstunterzeichner, zu dem vereinbarten 7. Dezember ein. So wurde die Gründung des Ortsvereins Coswig formgerecht durchgeführt. M. Müller lud mich zu der zwei Tage später erfolgenden Gründung des Ortsvereins Dresden im Gemeindehaus Dresden-Plauen ein. Das liegt von meiner Arbeitsstelle nicht allzuweit entfernt. Bei dieser Veranstaltung war ich als Coswiger – also Nicht-Dresdner – nur Gast. Es erfolgte nach allen Regeln die Gründung des Ortsvereins Dresden der SDP. Dann wurden einige Namen und ihre jeweils zugehörige Fachkompetenz genannt. Ich meldete mich bei dem für Wirtschaftsfragen zuständigen Dr. Roland Kadelejeff, der später zum stellvertretenden Oberbürgermeister gewählt wurde, aber von OB Wagner (CDU) wegen Verdächtigung zu seiner Vergangenheit beurlaubt wurde. Der Schwandte-Erst-Unterzeichner Matthias Müller bat mich, 1. die Gründungsversammlung für den Bezirksverband Dresden vorzubereiten und 2. an einem Treffen mit dem Bonner SPD-Parteivorstand teilzunehmen. Wir trafen uns zwischen Weihnachten und Neujahr mit den Bonner SPD-Vertretern in Müllers Wohnung auf der Plattleite in der Nähe des v.Ardenne-Instituts auf Dresdens Weißem Hirsch. Die Gäste hielten sich aus allem heraus. "Wir wollen uns bei euch nicht einmischen. Entscheidet selbst!" Das war der Grundtenor. Wir mußten also selbst das Schwimmen lernen! Zunächst konzentrierten wir uns darauf, in jedem Kreis des Bezirkes zumindest eine Initiativgruppe ausfindig zu machen. Niesky war noch ein ganz weißer Fleck!


Boots-Lehrgang


In der DDR gab es vieles nur auf Warteliste.In diese Zeit fiel der Boots-Lehrgang, auf den ich etliche Monate gewartet hatte. Ich nahm nur jedes zweite Mal und wenn schon, dann nur die halbe Zeit an dem Lehrgang teil. Das blieb nicht ohne Wirkung. Doch nach der praktischen Prüfung sagte der Segellehrer Dr. Liesch zu mir: "Wie ein Verkehrsrowdy sehen sie ja nicht gerade aus". Dafür gab es Stempel und Unterschrift. So war auch das noch geschafft.


Besuche in Bochum


Anfang Dezember im katastrophal überfüllten Zug und zum Jahreswechsel fuhr ich nach Bochum zu Tante Irmgard und Onkel Ewald, beide waren weit im Rentenalter. Sie hatten eine schöne Dreiraum-Wohnung und kamen mit ihren Hauswirtsleuten sehr gut aus. Medikamente wurden in die Wohnung gebracht. In den Familien der beiden Söhne gab es gesundheitliche und teilweise auch Ausspracheprobleme. Man kochte eben überall nur mit Wasser. Ich sah mir das Bochumer Uni-Gelände, die Düsseldorfer Kö, die Essener Synagoge und den Duisburger Hafen an. Und am Montagfrüh war ich wieder auf Arbeit. Für mein Wegbleiben über Sylvester bekam ich bei der SPD-Initiativgruppe für einen Bezirksverband kritische Worte zu hören.


Gründung des SPD-Bezirksverbandes Dresden/Sachsen-Ost


Die organisatorische Vorbereitung der Gründung eines über Radebeul, Coswig und Dresden hinaus koordinierenden Bezirksverbandes, damit über das östliche Drittel des Landes Sachsen, war mir übertragen worden. Die Raumfrage organisierte ich an meiner Arbeitstelle. Die Protokollführung war meine Aufgabe. Da ich jeden Abend unterwegs war, schrieb ich das Protokoll in einem Ritt auf Leporellopapier. Ein Unding für normale Verhältnisse. Kenntnisse über das Parteiengesetz fehlten fast allen. Es kam aber doch einiges in Bewegung. Weiße Flecken - also Kreise ohne eine erkennbare Anmeldung zur Mitgliedschaft - gab es weiterhin. Günther Neumann trat aus dem Kreis des neugewählten Vorstandes. "Ich übernehme zuerst mal den Vorsitz. Ihr seid doch einverstanden?" So kamen wir zu einem Vorsitzenden. Die meisten Anwesenden kannten ihn erst seit einer Stunde. Ich war zu der Funktion Schatzmeister gekommen, obwohl es keine Schätze zu verwalten gab. Multifunktionär wollte ich nicht werden. Also bewarb ich mich auch nicht für die Liste zur Volkskammerwahl.


Beim Besuch von Willy Brandt auf dem Altmarkt stand unser Vorsitzender G. Neumann mit einem freundlichen Lächeln mit auf der Bühne, aber von ihm kam kein Wort.


Der Militärstaatsanwalt am Runden Tisch des Bezirkes


Für den 15.3.90 war ich als Ersatzmann der SPD für den Runden Tisch des Bezirkes benannt. Eine Verspätung wegen eigener selbstorganisierten Wahlveranstaltung an der TU ließ sich nicht verhindern. Zu der Wahlveranstaltung am Vorabend der ersten freien Volkskammerwahl hatte ich eingeladen. Ersatzmann gab es nicht. Also mußte nach Feierabend beides abgewickelt werden. Ich klopfte an dem Sitzungsraum im Haus der Bezirksverwaltung an und trat ein. Die Sitzung war in vollem Gang. Der Moderator deutete auf einen freien Platz und registrierte, daß ich der Ersatzmann für den bisher teilnehmenden, aber inzwischen erkrankten SPD-Vertreter bin. Arnold Vaatz hatte wohl schon seinen Deal mit der CDU abgeschlossen, denn er wies auf den provisorischen Charakter dieses durch keine Wahlen legitimierten Gremiums hin. Sehr rührig war Herr Reichenbach (auch CDU) als bisheriger Stellvertreter im Rat des Bezirkes. Die Gesprächsleitung führte Herr Iltgen (heute Landtagspräsident). Vorgeladen war der Militärstaatsanwalt des Bezirkes Dresden. Er hatte den Leibesumfang eines Reichsmarschalls. Er hielt einen überlangen Vortrag. Er hoffte gewiß, daß sich alle nach Hause sehnen und darum keine Fragen stellen. Der Grundtenor seines Vortrages, die Offiziere hätten am 3.10.89in den Wachstuben gesessen und überhaupt nicht gewußt, was auf dem Hof ihrer Kaserne vor sich geht. Vaatz waren nach dieser Dreistigkeit des Militärs die Tränen gekommen. Immerhin war er mal Bausoldat gewesen. Er hatte wohl zu DDR-Zeiten mal ein "Treffen" mit ihm gehabt. Jetzt mußte ich ran! Ich fragte den dicken Militär, ob es richtig sei, daß ein Offizier gegenüber den einfachen Bereitschaftspolizisten eine speziellere Ausbildung erhalten habe? Antwort: Ja. Erhalten die Offiziere mehr Geld als die einfachen Dienstgrade? Antwort: Ja. Haben die Offiziere folglich eine höhere Verantwortung als die Polizisten? Antwort: Ja. War den Offizieren bekannt, daß umfangreiche Personen­Zuführungen erfolgt waren und somit ein besonderer Zustand im Objekt herrsche? Antwort: Ja. Haben die wachhabenden Offiziere eine Aufsichtspflicht personal- und geländemäßig über den Wachraum hinaus? Antwort: Ja. Also auch Aufsichtspflicht für die Vorgänge auf dem Hof und in den Garagen? Antwort: Ja. Moralischer Sieg, aber von niemandem auf der Straße registriert.


Die Übergangszeit


Die Menschen waren froh, daß sie nach dem Westen fahren durften. Jeder bekam im Westen einhundert Westmark Begrüßungsgeld. Den Geschäften im Westen schien das Warenangebot nicht auszugehen. Damit war im Osten die Protestwut heraus. Die „Volkseigenen Betriebe“ waren weiterhin in den Händen von SED-Genossen. Die Produkte dieser Betriebe kauften anfangs nicht einmal die Mitarbeiter dieser Betriebe. Selbst die Chefs besaßen eine Neugier auf das, was sie sich eigentlich bisher nicht mal im Fernsehen ansehen durften. Dafür mußten die Mitarbeiter in den Westbetrieben Sonderschichten fahren. Die Ostbetriebe verloren an Wert. Ihre Produkte wollte keiner. So ging es bergab. Aber kaum einer merkte es. Am Ende gab es an der Monatsgrenze August/September 1990 sogar von der vereinigten Ost/West-SPD die Forderung nach einer schnellstmöglichen Vereinigung Deutschlands, um einen totalen Zusammenbruch jeglicher wirtschaftlicher und staatlicher Strukturen zuvorzukommen.


>>
START

>> Homepage-Beginn