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Stand: 3.5.05

Rainer Feig



Wurzeln


Unter „Wurzeln“ ist mehr als ein halbes Hundert Episoden aufgeschrieben, zusammengetragen aus Erlebnisberichten von Verwandten, Bekannten, Arbeitskollegen und natürlich auch von mir. Es ist einfach so aus der Erinnerung mal so aufgeschrieben. Aus dem Erfahrungsschatz dieser „Wurzeln“ werden jene Verhaltensweisen der Zeit nach 1955 als Reaktion auf gewisse Umgebungsbedingungen plausibel, die in dem Teil „Zum Trotz“ beschrieben sind. Aus den ersten „Wurzel“-Episoden ist zu ersehen, wie sich Menschen in einer Zeit, da ihr Wert nach mehr oder weniger Eigentum taxiert wurde, aus ihrer Umklammerung zu lösen versuchten. Bei meinen Großvätern und ihren Umgebungen gibt es einige Beispiele dafür. Der Weg der Menschen, die es mit ihrer eigenen Hände Arbeit versuchten, war steinig. In mehreren Fällen kam der Erfolg erst ein oder zwei Generationen später. Wir hatten zwar einen Fall von 99 ha Grundbesitz im Meißner Land und einen Fall von Reichsbahn-Pacht-Gaststätte.


Sowohl väterlicher- wie auch mütterlicherseits gab es eine starke Bindung zur Sozialdemokratie. Aber es gab auch einige Querschläger unter den Verwandten. Bei einem pazifistisch orientierten Großonkel schlugen beide Kinder total aus der Art der familiären Umgebung. Unversöhnliche politische Meinungen gab es folglich nicht nur in Bredels „Väter, Söhne, Enkel“.


Und nach dem Krieg erhielt mein Meißner Cousin die Möglichkeit, an einer Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) das Abitur nachzuholen und dann Staatswissenschaft zu studieren. Er zählte als Arbeiterkind. Dem System dankte er es mit der SED-Mitgliedschaft. Trotz aller "Bestrahlung" im Rahmen seiner Ausbildung blieb er bei seiner Beurteilung von Kennedys "Allianz des Fortschritts" und von "zeitweiligen Schwierigkeiten beim Aufbau des Sozialismus" ein kritischer Geist. Und er vertraute auf Alexander Dubcek. Am Tag nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei schied er aus dem Leben.Nachfolgend sind Episoden aus der Zeit 1890 bis 1955 aufgeschrieben.


Die Zeit war reich an gesellschaftlichen Widersprüchen. Die Methoden der Meinungs-Beeinflussung auf den „kleinen Mann von der Straße“ wurden diktiert vom Machtstreben einzelner. Je hinterlistiger – je wirkungsvoller! Allein nach einer Selbsteinschätzung und einer Selbstverpflichtung für zukünftiges Handeln sollte keine Blankovollmacht ausgestellt werden. Auch die Abstammung aus dem Kreis y und die Praxis im Beruf z sind keine Garanten. Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser! Demokratie funktioniert nur, wenn der Souverän auch fortlaufend seine Kontrollfunktion wahrnimmt. Das ist mit den Notwendigkeiten für die repräsentative Demokratie in Einklang zu bringen.


Inhaltsverzeichnis:


Einleitung

Die erzgebirgische Linie

Die Großeltern als Wirtsleute

Vaters landwirtschaftliche Lehre

Vater als Finanzbeamter

Großvaters Pleite

In Böhmen>> Böhmen:

Der Röhm-Putsch

Tante Irmgard

Quark und Büchsenmilch

Großvaters letzten Jahre

Die Meißner Linie

Mein zweites Zuhause

Familie Zocher

Butter-Hörigs

Caspars

Altbauer Oswald Hörig

Berliner Tante

Afrika-Tante>> Afrika:

Buschfunk-Meldungen vor '45

Elterns Anfang in Dresden

Die elterliche Wohnung

Cousin als unreifer Schauspieler

Um Kopf und Kragen – Familie Gutherz

Vaters Einberufung

Brücken verbinden nicht immer

Als Gastwirtssohn beim Militär>> Militär:

Signal: leeres Dorf

Kriegsgefangene in Dresden

Die letzten Wochen der 1000 Jahre

Der Bombenangriff auf Dresden

Zum Kriegsende in Meißen

Vaters Gefangenschaft

Auf der Rückertstraße

Auf der Helgolandstraße

Geschenke

Trümmerlore>> Lore:

New York! New York!"

Am Wilden Mann

Meine Schuleinführung

Vaters Heimkehr

HO – volkseigene Handelsorganisation

Klassenlehrer Lemme

Bücher

Klassenlehrer Schlott

Geschichtslehrer Knorr

Biologielehrer Liebig

Gespräche

"Demokratische Wahlen">> Wahlen:

Auf Ski

Arbeitsgemeinschaft Metall

Cousins Jugendgruppe

17. Juni

Vater als „Eintänzer“

Fuhrunternehmen Hering

Bei Großmutter>> Großmutter:

Urlaub in Kühlungsborn

Reparationen

Auf dem Bauernhof

Der Student von Moskau

Anträge auf Besuch der Oberschule

Lehrstelle

Schulabschlußfeier








Die erzgebirgische Linie


Die Wurzeln väterlicherseits liegen im Erzgebirge. Mein Vater wurde 1902 in Geyer geboren. Er berichtete mir mehrfach von einer langen Bergmannstradition unter seinen Vorfahren. Bergmannsaufzüge waren jeweils ein Großereignis für den Ort und die ganze Umgebung. Immerhin waren (und sind) Bergleute in besonderem Maße launigen Naturgewalten ausgesetzt. Durch Kameradschaftlichkeit, Disziplin, gegenseitiges Vertrauen sowie Kenntnisse über Naturgesetze und über das sinnvolle Organisieren eigener Arbeit entstand offensichtlich ein besonderer Typ von Arbeiter und Mitbürger. Diese Aussage steht im Einklang mit statistischen Daten über die politische Organisiertheit in diesem Gebiet und dieser Zeit.


Die Großeltern als Wirtsleute


Auf der Heiratsurkunde meiner Großeltern ist als Beruf der Großmutter Posamentenmacherin angegeben. Und die Berufskarriere meines Großvaters begann als Lokheizer. In der damaligen Zeit war das - zumindest in den Höhen des Erzgebirges - als neuer Beruf gewissermaßen bei Hochtechnologie einzuordnen. Ein besonderer Vorfall änderte seine Arbeitswelt. Eine Lok hatte sich selbständig gemacht. Er sprang auf und brachte die Lok zum Stehen. Dabei hatte er sich allerdings eine Verletzung zugezogen. Die Reichsbahn bot ihm dafür eine kleine Pension oder eine Bahnhofs-Wirtschaft. Da seine drei Söhne so gebaut waren, daß sie Bierkrüge schleppen konnten, mutierte der Lokheizer zum Gastwirt und damit der SPD-Genosse zum Unternehmer. Ob die örtliche SPD ihre Versammlungen im Lokal ihres Mitgliedes durchführte, ist mir nicht überliefert. Noch Jahrzehnte später sprach man im Verwandtenkreis davon, daß eines Tages die Kapelle zu einer Veranstaltung nicht termingerecht anreiste. Das war für meinen Vater die Gelegenheit, mit seinen sängerischen Leistungen aufzuwarten - und das so, daß es viel Beifall gab.


Großvater führte auch Schlachtungen im eigenen Haus durch - mit einem angestellten Fleischer. Mein Vater hat sich dabei viele Arbeitsgänge abgesehen, wie ich beim Zerlegen und Zubereiten von Geflügel und Karnickeln Jahre später erleben durfte. Aber der Fleischer ahnte, daß mein Vater drauf und dran war, seine Kniffe zu beherrschen. Fortan ließ er nur noch einen geringen Einblick zu.


Die Gastwirtschaft war einigermaßen profitabel. Zumindest an besonderen Feiertagen wurden "die Steuern" erarbeitet. Natürlich mußte dann die ganze Familie incl. der dann schon großjährigen Kinder mit ran. Der große Sohn kam aus dem Ersten Weltkrieg mit einem Lungensteckschuß heim und "schlug dann die höhere Beamtenlaufbahn am Finanzamt ein". Der zweite Sohn verstarb an Diphterie. Als mein Vater 1918 die Realschule absolviert hatte, waren die entsprechenden Ausbildungsstellen am Finanzamt nicht verfügbar.


Vaters landwirtschaftliche Lehre


Großvaters Söhne sollten eine gute berufliche Ausbildung erhalten. Das war offenbar Großvaters Lebensleitlinie und Beitrag für ein besseres politisches System. Damals hatte man noch Ideale. Großvater investierte 1.000 Reichsmark - damals sehr viel Geld - für eine landwirtschaftliche Lehre meines Vaters bei Grevesmühlen in Mecklenburg. Immerhin gab es dort schon Mähdrescher, und Transporte nach Lübeck wurden vier- oder gar sechsspännig ausgeführt. Es war aber auch die Zeit von Schwarzer Reichswehr und Patronaten, die weder Verfassung noch Gesetz anerkennen wollten. Wer auf der schwarzen Liste stand, ging ohne ernsthafte Ermittlungen "verloren". Als in einer Scheune eine Leiche verweste, wollte niemand etwas bemerkt haben. Wer aber Familie hatte und sein Leben liebte, konnte sein Wissen nicht aktenkundig machen. Wer wollte schon sein eigenes Todesurteil ausstellen? Diese Mafia war sogar so "kulant", Feme-Urteile erst nach einer Vorwarnung zu vollstrecken. Während der eine am Abend im Wirtshaus mit dem anvisierten Opfer becherte, öffnete der andere die Abdeckung der Jauchengrube vor dem Haus des Opfers. So schüchterte man politisch Andersdenkende ein. Man darf sich darum nicht wundern, daß einige organisierte Arbeiter und Landarbeiter - und der Organisiertheitsgrad der Arbeiterschaft war damals beträchtlich - nur noch drastischen Mitteln vertrauten oder gar ganz verzagten. Die Zahl derer, die für ein Bier, eine kostenlose Uniform oder die Aussicht auf einen Arbeitsplatz die Fronten wechselten und willige Werkzeuge wurden, war beträchtlich. Drastische Mittel der einen Partei führten zu noch drastischeren Mitteln der Gegenpartei. Dazu gehörte auch eine enorme Ausstattung der radikalsten Kräfte mit Geld. Die Rattenfänger hatten keine Mühe, willfährige Werkzeuge zu finden. Und die SPD vertraute auf Rechtsstaatlichkeit und die Verfassungstreue der Beamtenschaft. Jahrzehnte später wurde die Unterwanderung der Parteien durch die jeweilige Gegenpartei untersucht, allerdings als Basis für die Unterwanderung des "Klassengegners" zum Nutzen für ein neues Unrechtssystem. Aber dazu später.


Vater als Finanzbeamter


Nach der Landwirtschafts-Ausbildung kam mein Vater doch noch beim Stollberger Finanzamt für eine "kleine Beamtenlaufbahn" unter. In den jungen Beamtenkreisen war die Kritik am Versailler Frieden sehr verbreitet. Mein Vater hat mir später berichtet, auf welcher gesetzlichen Grundlage eine Partei damals zu gründen war. "Sieben Personen reichen! So haben die Nazis auch mal angefangen! Dann hatten sie beinahe die ganze Welt in ihrer Hand." Mit dem Parteiengesetz - allerdings dem der DDR - sollte ich später noch sehr hautnah konfrontiert werden. Auf eine ganz andere Art lief die Konfrontation für meinen Vater ab. An einer solchen Arbeitsstelle Finanzamt machte man sich Gedanken über die harten Auflagen im Versailler Abkommen. Das lief den nationalen Interessen wirklich entgegen. So fand man sich in den Reihen der NSDAP ein, darunter Rattenfänger und Karrierejäger oder eingelullte Mitläufer. Man berief sich auf uralte germanische Rituale (historische Identifikation kommt immer an) und Kameradschaften aus der Kriegszeit. Für ein Freibier fanden sie erst recht Zulauf. Und die Beamtenschaft fand in der Novemberrevolution und in der Unterzeichnung des Versailler Friedens sich offensichtlich nicht vertreten. Ob mein Vater es bis zu einer richtigen Mitgliedschaft brachte, wurde mir nicht übermittelt. Jedenfalls bekam mein Großvater Wind von dieser Annäherung. Mein Vater war zu jenem Zeitpunkt zwar voll- aber nicht großjährig. Darum nahm sich mein Großvater dieser Sachlage mit sehr handfesten Argumenten an. Mein Vater hat mir nie über diese Niederlage berichtet, wohl aber seine Schwester Irmgard. Als Folge der handfesten Auseinandersetzung kam mein Vater allerdings vom Regen in die Traufe. Nach Hitlers Marsch auf die Feldherrenhalle gab mein Vater entsprechend dessen, was er im Fach Rechtskunde gelernt hatte, den folgenden Kommentar ab: "Das ist nicht nach Recht und Gesetz!" Daraufhin paßte man ihn eines Abends ab, plötzlich kam eine Hand aus einem Hauseingang heraus, dann polterte es einige Male, das Nasenbein war eingeschlagen, die Täter weg und die Hausbewohner gaben vorsichtshalber an, nichts gehört und nichts gesehen zu haben. In der Öffentlichkeit und vor allem auf Arbeit war mein Vater danach als ein sich prügelnder Mensch gekennzeichnet. Und so etwas arbeitet auf dem Finanzamt?


Großvaters Pleite


Meine Großmutter war die Seele von Großvaters Unternehmertum. Sie hatte drei Jungs zur Welt gebracht. Sie wollte unbedingt noch ein Mädchen haben. Zu einem eigenen Kind konnte sie nicht mehr kommen, denn mein Vater war bei der Geburt recht groß, und als Folge dessen war es vorbei mit einem weiteren Kind. Im Ort bot sich eine Gelegenheit, als eine junge Mutter mit dem Kindesvater nicht unter einen Hut kam. Meine Großeltern nahmen sich der kleinen Irmgard an und verfügten, daß das Mädchen allein erbberechtigt sein sollte, weil die Jungs eine gute Berufsausbildung bekamen. Außerdem wurde ein stattlicher Betrag, den der Kindesvater per Einmalzahlung als Alimente bereitstellte, mündelsicher angelegt. Die Sache hatte nur einen Haken! Großmutter starb, und Großvater nahm sich eine Wirtschafterin namens Helene, die er später heiratete. Deren Bruder besuchte öfter die sächsischen Pferderennbahnen. Und die Wetteinlagen waren eben nicht die niedrigsten. Einen Teil hatte in Wirklichkeit wohl ein Neffe angelegt. Aber über Geld, das weg ist, braucht man nicht mehr reden. Helenes Interesse war es, Besuche des großen Sohnes – also meines Onkels und seiner Familie - möglichst schnell abzuwimmeln. Immerhin hatte mein Onkel mit der Zeit Wind von ihren Aktionen bekommen. Er versuchte, die Interessen seines Vaters zu vertreten. Das interpretierte Helene als Einmischung in ihre innerehelichen Angelegenheiten. Innerhalb eines Jahres machte mein Großvater Pleite und die Ehe wurde geschieden. Helene hatte erreicht, was sie bezweckt hatte. Es war nichts mehr zu holen.


Meinem Vater verblieb es in der Folge, als Liquidator bei der Auflösung der Gastwirtschaft aufzutreten. Für ihn ergab sich daraus noch gerichtsanhängiger Ärger, weil eine Flurgarderobe der Gaststätte verflüssigt wurde, obwohl sie nicht Eigentum meines Großvaters war. Noch bis in meine Schulzeit hinein stutzte mein Vater im Falle einer Bewerbung, ob er sich nun noch als vorbestraft einstufen müßte.


Böhmen:


In Böhmen


Als Folge seiner Aussage, daß ein Putsch nicht nach Recht und Gesetz ist, wechselte mein Vater notgedrungen in die Tschechoslowakei. Dort erlebte er nach eigenem Bekunden seine besten Jahre. Frau Chefin sorgte für ein erstes, ein zweites und ein drittes Frühstück. Es war die Zeit, als der tschechoslowakischen Regierung auch ein Minister der dortigen deutschen Minderheit angehörte. Nationale Mehr- und Minderheiten hatten ihr Auskommen und lebten im Einvernehmen. Eines Tages trat in der Tschechoslowakei ein Gesetz in Kraft, wonach Arbeitsplätze vorrangig einheimischen Bürgern anzubieten seien. Mein Vater verlor als deutscher Staatsbürger dadurch seine Arbeit und siedelte nach Dresden um.


Der Röhm-Putsch


olzartikel. Nach einer großen SA-Parade - üblicherweise als Bereitschaftsappell vor einem großen Einsatz - kamen einige Stollberger SA-Leute zufällig bei meinem Vater vorbei und sagten: "Richard, jetzt machen wir es so, wie du es gesagt hast." Jedenfalls aus dem "Jetzt machen wir es" wurde nichts. Trotz hundertfach zahlenmäßiger Unterlegenheit agierte die SS schneller, rigoroser und v.a. überraschender. Allein in Dresden wurden kurz nach der eben genannten Parade knapp 70 SA-Offiziere an der Wolfsschanze nahe dem Fischhaus erschossen. So ging die SS mit ihren eigenen Helfern um, die die braune Diktatur in der breiten Fläche mit rauher Gewalt geschaffen hatten und an das Märchen von der Nazi-"Arbeiterpartei" glaubten. Die Geldgeber und Hintermänner der Nazipartei wollten aber Sicherheiten, damit Politik in ihrem Sinn gemacht wurde. Die SS sorgte nach Gleichschaltung oder Auflösung aller demokratischen Organisationen nun auch für die Gleichschaltung der SA. Die Geldgeber der Nazipartei wollten natürlich für ihren Aufwand nun auch einen eigenen Nutzen für diesen Aufwand haben. Über die Mittel zu diesem Weg dachte man nicht lange nach. Der Totenkopf auf den Mützen der SS-Leute war Programm genug. Nach den Exekutionen eigener Leute braucht man nicht mehr fragen, wie sie mit anderen umgingen. So wurde tausendfacher Mord zur Staatsdoktrin. Die Hintermänner hatten jetzt freie Bahn für eine Wirtschaftsbelebung und darauf aufbauend für die Eroberung eines Imperiums. Deutschland erreichte 1936 den höchsten bis dahin erzielten Lebensstandard. "Kraft durch Freude"-Schiffsreisen, Autobahnbau, Westwallbau, Olympiabauten u.v.m. ließ viele Menschen, die sich nicht mit den tieferen Zusammenhängen beschäftigten, begeistern. Mein Berufsschul-Klassenlehrer Götz berichtete, daß er sich freiwillig zur U-Boot-Flotte meldete, obwohl er die Folgen von Mißhandlungen bei seinem aus dem KZ entlassenen Verwandten selbst in Augenschein genommen hatte.


Tante Irmgard


Tante Irmgard behielt ihren alten Familiennamen - allerdings mit dem Zusatz "genannt Feig", war voll erbberechtigt, hatte nur nichts davon, wie sich später zeigte. Als mein Vater in Dresden war, arbeitete sie als Haushaltshilfe bei einem Rechtsanwalt am Münchner Platz knapp unterhalb des Gerichtsgebäudes. Teilweise half sie auch im Geschäft meines Vaters mit. Er hatte auf der Waldschlößchenstraße - also zwischen Erich Kästners Geburtshaus, dem Fischhaus und dem Kasernenviertel - ein Lebensmittelgeschäft übernommen. Die ehemaligen Betreiber Mutter und Tochter führten nun das Geschäft im Auftrage meines Vaters. Später half auch meine Mutter mit. Ab diesem Zeitpunkt sei abends bei gleichem Verkauf mehr in der Kasse gewesen als vorher. Es geht eben immer wieder um das simple schnöde Geld.


Und Tante Irmgard wollte Lehrerin werden. Da ihr Erbteil von der Stiefmutter „abgezweigt“ worden war, war ein Studium und damit dieser Berufswunsch nicht mehr möglich. So nutzte sie eine Gelegenheit (so etwa vor Kriegsbeginn), in einem Kinderheim auf Rügen und später bei Lübeck zu arbeiten. Und wenn ich etwas später mal nicht ganz nach Mutters Wünschen parierte, wurde mir das Bild von dort mit Tante Irmgard, ihrem Sohn Wolfgang und einem großen Schäferhund vorgehalten. "Siehtst du, der Wolfgang ist ein braver Junge!" Naja, die ganz alten pädagogischen Tricks!


Quark und Büchsenmilch


Die Haupterwerbsquelle meines Vaters war aber Großhandel mit Büchsenmilch. Angefangen hatte er mit einem Fahrrad, links am Lenker einen Eimer Quark und rechts ebenso. Genüßlich erzählte er zu besonderen Anlässen, wie er mit dem Rad in eine Straßenbahnschiene gekommen war, die Länge der Straße maß und dann vom Quark rettete, was zu retten war. Mit einem Freund zusammen schaffte er sich ein Auto an. Nur der Freund soll Alkohol getrunken haben und dann das Auto zu Schrott gefahren haben. Warum ist bei solcher Ausgangslage mein Vater nicht gefahren? Jedenfalls wurde der Restwert des Autos mit den Abholkosten ab Baum verrechnet. Das war's! Den Neuanfang vermittelte meine Großmutter mütterlicherseits. Irgendwann fand ich mal eine Rechnung über 600 Reichsmark für ein dreirädriges Tempo-Auto mit Großmutters Unterschrift. Immerhin hatte mein Vater meine Mutter im Dienst kennengelernt. Sie war für die Landfiliale des KONSUM in Miltitz-Roitzschen verantwortlich. Und mein Vater handelte mit Büchsenmilch. So geht das! Und was daraus entstehen kann?


Großvaters letzten Jahre


Großvater wurde in seinen letzten Jahren von einer Krankenschwester umsorgt - allerdings nur bis 1945. Sie war von dem braunen Spuk so eingenommen, daß sie sich beim Einmarsch der Sieger - im Chemnitzer Raum waren es gewiß die Amerikaner - das Leben nahm.


Vater schrieb aus Frankreich an meine Mutter, sie solle Großvater in Dresden aufnehmen. Die Bombennacht auf Dresden wäre wohl dann für uns anders verlaufen. So starb er dann kurz nach dem Krieg in einem Pflegeheim im Erzgebirge. Einige Möbel erbten wir von ihm. Das war ein Jahr nach unserer Ausbombung, als wir lediglich eine minimale Ausstattung von der Volkssolidarität erhalten hatten. Mutters Geschick war es zu danken, daß sie eine Transportfirma fand, die diese Möbel nach Dresden in unser Untermiet-Domizil auf der Helgolandstraße brachte. Einige Teile davon halte ich bis heute in Ehren.


Die Meißner Linie


Meine Mutter wuchs in Meißen auf, zuerst im Stadtteil Cölln, also rechts der Elbe. Großvaters Name Querkowsky ist polnischen Ursprungs. Vor mehreren Generationen gab es Aufruhr in Polen. Der Gutsbesitzer Querkowsky wurde von den Aufrührern umgebracht. Sein großer Sohn war Offizier und erschoß sich selbst, als er von den Vorgängen erfuhr. Und der kleine Sohn wurde vom Kindermädchen außer Landes gebracht. Soweit wurde es mir überliefert.


Mutters Vater war Töpfer von Beruf. Dem Lauf der Zeit entsprechend arbeitete er in einer Fabrik, weil das Handwerk in vielen Sparten mit der Ökonomie der Fabriken nicht mehr mithalten konnte. Eines Tages wollte er am Ende der Mittagspause noch gleich die Zigarre bezahlen, die ihm ein Kollege vom Laden mitgebracht hatte. Der Kollege winkte ab, es habe Zeit bis morgen. Er aber wollte keine Schulden haben und versuchte gleich noch zu bezahlen. Der Fahrstuhl fuhr los, um Großvater in seine Arbeitsetage zu bringen. Das Ergebnis war ein schwerer Unfall. Der Meißner Großvater starb einige Tage danach. Meine Mutter war damals neun Jahre alt. Großmutter respektierte die Meinung ihrer drei Kinder, daß kein neuer Vater ins Haus kommen soll. Man bezog eine kleinere Wohnung. Großmutter arbeitete in der zweiten Meißner Porzellan-Manufaktur - bei Teicherts. Im zwei Bahnstationen entfernten Brockwitz pachtete sie einen Schrebergarten, um Kartoffeln, Gemüse und Obst anbauen zu können und um damit das Familienbudget aufzubessern. Die große Tochter kam zu Verwandten nach Gauernitz. Die beiden jüngeren Töchter gingen „Aufwartung bei Herrschaften“ machen - heute putzen genannt. Außerdem halfen sie bei Butter-Hörigs. Genaueres dazu später. Außerdem mußte wöchentlich ein Kind zum großelterlichen Gut in Jessen laufen, um dort ein halbes Stück Butter und ein Pfund Quark abzuholen.


Meine Meißner Großmutter Martha Querkowsky, geb. Hörig, stammte von einem 99ha-Gut in Jessen bei Meißen. Sie wuchs als eines von zwölf Kindern auf. Ihr Vater war von der modernen Technik begeistert. Er soll im Wirtshaus gesagt haben, daß eines Tages Kutschen auch ohne Pferde fortbewegt werden könnten. Dafür erntete er damals nur Hohn. Nachdem es die Eisenbahn auf der Schiene bereits geschafft hatte, war das frei lenkbare Automobil von Benz nicht mehr weit. Als Erster im Dorf schaffte er sich eine dampfgetriebene Dreschmaschine an. Und das Ding hatte einen Haken. Das Ding nicht direkt, aber einige Kinder aus dem Dorf. Daheim durften sie nicht mit Schwefelhölzern spielen. Also gingen sie hinter Hörigs Scheune, wo sie niemand sah. Und als die Scheune samt darin befindlicher Dreschmaschine brannte, rannte alles hin, was Beine hatte. Auch der große Bruder von Großmutter – also der zukünftige Besitzer des Gutes. Um wenigstens die Dreschmaschine retten zu können, hätte er den Schlüssel der Scheune dabei haben müssen. Hatte er aber nicht! So nahm das Übel seinen Lauf. Schadenersatz war nicht zu holen - mangels Masse. Bei den Eltern der Verursacher war nichts zu holen.


Großonkel Oskar hatte für meine Großmutter eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, nachdem sie sich in einen Böttcher verliebt hatte. Der Böttcher wollte mit meiner Großmutter nach Amerika auswandern. Da ein Kind unterwegs war, mußte man die Erschwernisse von Reise, Einbürgerung und Aufbau einer eigenen Existenz in einer für sie bis dahin fremden neuen Welt bedenken. Böttcher und Großonkel Oskar vereinbarten einen Aussprache-Termin in der Meißner Bahnhofs-­Wirtschaft. Großonkel Oskar vertrat die Interessen seiner Schwester. Die Träume des Böttchers waren zumindest mit der Schwangerschaft nicht vereinbar. Das mußte er einsehen. Er entschuldigte sich für einen Augenblick, um die Toilette aufzusuchen. Kurz darauf fuhr ein Zug ein und führte vor Erreichen des genauen Haltepunktes eine Notbremsung durch. Damit war der Böttcher aus dem Leben geschieden. Meiner Großmutter war damit ganz bestimmt kein Dienst erwiesen. Das Kind wurde aber trotzdem groß und auch von Großmutters Geschwistern umsorgt. Als dann nach der Heirat mit meinem Meißner Großvater Querkowsky zwei weitere Mädchen zur Familie geboren wurden, der Großvater nach dem Unfall verstorben war und der Erste Weltkrieg zu Lebensmittelknappheit führte, nahm eine Schwester von Großmutter - eine verheiratete Zocher - mit ihrem Mann Max in Gauernitz die große (Halb-)Schwester meiner Mutter für einige Zeit auf. Daß die Zocher-Tante später Stadtverordnete mit SPD-Mandat in Meißen war, in der Nazizeit mit Hausarrest und Haft traktiert wurde, ihr Mann als Straßenbahnfahrer Berufsverbot erhielt und ihre große Tochter Charlotte nur eine Lehrstelle in einem von Arbeitsschutz kaum berücksichtigten Betrieb - der Jute - erhielt, kennzeichnet den Widerstandswillen der Familie Zocher sowie deren Wirken für eine menschlichere Welt.


Mein zweites Zuhause


Wenn meine Mutter in Meißen als Aushilfe arbeitete, eine größere Besorgung zu erledigen hatte o.ä. wurde ich meist bei meiner Meißner Großmutter untergebracht. So wurde dieses Haus zu meinem zweiten Zuhause. Großmutter hatte viele Jahre bei Teicherts, der privaten Porzellanmanufaktur, die es neben der "Staatlichen" noch gab, gearbeitet. Das war nur zwei Häuser weiter. Ich erinnere mich noch, wie viele Arbeiter von ihren Kindern das Essen auf Arbeit gebracht bekamen und auf den Begrenzungssteinen des Schulhofes sitzend ihr Essen einnahmen. Eisenbahnwaggons mit Spurweiten­Umsetzern fuhren auf den Schienen der ehemaligen Straßenbahn bis in Teicherts Fabrikgelände. Nachts hörte man die Rauschgesänge der heimkehrenden Gäste der benachbarten Gaststätte "Hopfenblüte". In der nächsten Seitenstraße wurden Turmuhren gebaut und repariert. Wichtiges Versorgungsinstitut für Großmutter und die Familien ihrer Töchter war der Schrebergarten auf der anderen Elbseite. Zum Zwecke der Ertragssteigerung ging man mit dem Eimer oder dem Leiterwagen durch die Stadt und schaute sehnsüchtig jedem Pferdefuhrwerk nach. Auch eigene Körpererzeugnisses wurden der gärtnerischen Verwendung zugeführt. Die nächstgelegene Drogerie auf der Neugasse hatte eine spezielle Sickenmaschine, mit der man von gebrauchten Konservendosen den oberen Rand abschnitt, bördelte und damit wieder verwendungsfähig machte. So wurde die Ernte aus dem Garten für das ganze Jahr verzehrfähig gehalten. Für Gurken und Bohnen gab es ein einfaches Verfahren: das Einlegen in große Einlegtöpfe aus Ton. Großmutter und Töchter hielten hier zuweilen Waschfest. Vor lauter Dunst konnte man oft nicht sehen, wer gerade am Wäschekochkessel stand. Über dem Waschhaus befand sich eine Terrasse zum Wäschetrocknen. Nach dem Trocknen brachten wir die Wäsche zu einer Gärtnerei, um sie dort auf der Wiese zu bleichen. Bei vielen Wehwehchen: Großmutters Medizinkünste konzentrierten sich auf Petroleum. Sturz aufs Knie - dann Petroleum. Und ihre Bildungsempfehlung für meinen Cousin: "Lerne Sprachen". Durch den Krieg wurde ihr Rentenbeginn plötzlich verschoben. Von ihren drei erworbenen kleinen Rentenansprüchen wurden nach Kriegsende nur eine gezahlt. Als Rentnerin gönnte sie sich täglich nach dem Mittagessen eine ausgiebige Zeitungsschau - bis ihr die Augen zum Mittagsnickerchen zufielen. Mein Cousin, der etwa ab 1946 in ihrer Wohnung mit wohnte und das kleine Zimmer belegte, gab dazu meist einen verschmitzten Kommentar ab.


Familie Zocher


Zochers Kinder gingen ca. um 1930 herum vom Stadtteil Triebischtal öfter zu meiner Großmutter und ihren Töchtern, die inzwischen auf dem Neumarkt schräg gegenüber der Neumarkt-Schule neben Teicherts, der daneben liegenden Bäckerei Geckert, der Gaststätte "Hopfenblüte" und dann im nächsten Haus wohnten - alles auf der linken Elbseite.


Zochers bearbeiteten einen Weinberg an den Katzenstufen, waren im Stadtrat und im Elternbeirat der Schule ihrer Kinder vertreten und feierten mit der gesamten Hörigschen und sicher auch Zocherschen Verwandtschaft. Waren ursprünglich beide Ehepartner SPD-Mitglieder, so war Max Zocher dann Mitglied der SAP, die ein Zusammengehen mit der KPD befürwortete, aber nur geringen Zulauf fand.


In dieser Zeit hatten die Reichsregierungen jeweils nur einen kurzen Bestand. Folglich fanden in kürzeren Abständen Wahlkämpfe statt. Während die einen Bürger sich aus allem Politischem heraushielten, engagierten sich die anderen für ihre Ideale. Da nicht jeder einzelne Bürger vor dem Reichstag auftreten kann, müssen über Wahlen Abgeordnete beauftragt werden. Dieser Weg führt über Wahlkampf. Dabei wurde zumeist nicht nur das eigene Programm vorgestellt, sondern auch die Gegenpartei diffamiert und wurden deren Versammlungen gestört. Als Ordnungsdienst wirkte dann ein Saalschutz, der das Hausrecht des Veranstalters zu sichern hatte. Die Parteien demonstrierten bei Aufmärschen die Kraft und Disziplin ihrer Mitglieder, bis sie von Störern der Gegenpartei behindert wurden. Die Selbstschutzorganisationen der Parteien nahmen immer militärischere Formen an. Letztlich wurde in immer kürzeren Abständen und brutaler aufeinander eingedroschen. Für Polizei und Justiz war es kaum möglich, aus der Menschenmasse eine konkrete Person als Verursacher zu ermitteln.


Sicherlich war eine Ursache für den Wahlerfolg der Nazipartei die Arbeitslosigkeit in jener Zeit. Zum anderen hat Geld von demokratiemüden Kreisen die Wahlergebnisse zunehmend gesteuert. Eine Partei, die zusichert, die wirtschaftspolitischen Forderungen des Großkapitals zu erfüllen, kann mit deren Spenden ihren Mitgliedern, ihren Wahlkampfberatern und ihren Vollzugsorganisationen bessere Bedingungen bieten. Obwohl die Nazipartei trotzdem nicht die absolute Mehrheit bei der Reichstagswahl im Januar 1933 erreichte, wandte sie täglich neue Methoden an, um ihre Macht schrittweise bis zur Alleinherrschaft auszubauen. Darum die Bezeichnung „Machtergreifung“.


Auch die Selbstschutzorganisation der SPD – das Reichsbanner – stand nach mehreren Berichten in der Wahlnacht in Bereitschaft. Herr Rudolf Pohl berichtete mir, daß die in Zehren bei Meißen in ihrem Vereinsgebäude wartende Reichsbanner-Mannschaft am 30./31. Januar 1933 mit Pistolen in der Tasche auf einen Befehl wartete. Diese Aussage ergänzt sich mit dem Bericht von meinem Geschichtslehrer Knorr an der Grundschule Briesnitz: Er hatte sich an dem fraglichen Wahlabend mit dem Polizeipräsidenten bei einem Bier unterhalten. Auf die Frage, was nun werde, habe er selbstsicher die Pistole auf den Tisch gelegt und gesagt: "Diese Sprache verstehen die Nazis." Offenbar waren die Nazis in die Strukturen der Selbstschutzorganisationen anderer Parteien verdeckt eingedrungen. In einer Dissertation Doehler an der Militärakademie Dresden soll dazu Näheres ermittelt sein. Hatte die Partei x einen Spion in die Partei y eingebaut, war es ein Leichtes, eine Befehlskette zu unterbrechen.


Nach der „Machtergreifung“ der Nazipartei 1933 standen vor Zochers Haus SA-Posten, um sie vor Kontakten mit ihren Genossen abzuschirmen. Etwas später wurde Max Zocher doch noch „abgeholt“.


Zochers Tochter Charlotte war Augenzeugin der Verhaftung ihres Lehrers Lange in der Triebischtalschule: Die Schüler verbrachten die große Pause (offenbar wegen schlechten Wetters) in den Gängen des Schulgebäudes. Da kamen zwei gut gekleidete Männer die Treppe herauf und gingen in das Klassenzimmer. Heraus kamen sie mit Charlottes Klassenlehrer Lange. Im Vorbeigehen bat er Charlotte, ihren Eltern von diesem Vorgang zu berichten. Die Triebischtalschule war bis 1990 nach dem Lehrer Lange benannt. Die Stadt Meißen löschte auch diese Würdigung, um sich offensichtlich nicht nur von der SED-Herrschaft, sondern auch vom antifaschistischen Widerstand abzuwenden. Charlotte bekam ob ihres Elternhauses nur eine Lehrstelle in der "Jute". Ihr Meister war ein strammer SA-Mann. Nachdem ihr Vater verhaftet worden war, erklärte der Meister ihr: "Dich bringe ich auch noch dorthin, wo du hingehörst." Das war deutlich genug. Dieser Meister meldete ihre Mitgliedschaft beim Roten Kreuz ab. Glücklicherweise hatte Charlotte bereits eine Sanitätsausbildung absolviert und vertraute sich ihrer Rot-Kreuz-Vorgesetzten Frau Schumann an. Das war die Eigentümerin des Lebensmittel- und Tabakwarengeschäftes am Markt. Diese Frau wußte einen Ausweg. Sie schickte Charlotte zu einem längeren Lehrgang nach Chemnitz , woraus sich kriegsbedingt eine Volltätigkeit im dortigen Lazarett ergab. Gegen Ende des Krieges arbeitete sie wieder in Meißen. Nach dem 20. Juli 1944 war ihre Mutter auf der Meißner Burg in Haft. So konnte die Tochter sich täglich nach dem Befinden ihrer Mutter erkundigen. Für die Justizbeamten ein Grund mehr, sich um ordentliche Verhältnisse zu bemühen. Im Gegensatz zu einem KZ wurde eine Haftanstalt von Justizbeamten geführt. Die Essenausgabe wurde von Gefangenen ausgeführt, die zum Kalfaktordienst eingeteilt waren. Da die Aufsicht führenden Beamten den politischen Gefangenen aus der Zeit der Weimarer Republik bekannt waren, soll so mancher Kassiber von einer Zelle zur anderen gereicht worden sein. Am Gangende habe jedoch ein SA-Mann Aufsicht geführt. Dieser sei ein Gefahrenpunkt gewesen, jedoch in ziemlichem Abstand.


Als 1945 wegen der nahenden Front die Brücken gesprengt werden sollten, fand unsere ganze Verwandtschaft bei der Familie Zocher für einige Tage Aufnahme. Genau diejenigen halfen, die in den Jahren zuvor argen Repressalien ausgesetzt waren. Im Zusammenhang mit der Brückensprengung sei auch an diejenigen erinnert, die am 6. Mai 1945 versuchten, mehr Unheil vor der Stadt abzuwenden: Anker, Willy (SPD) und Walter, Fritz (KPD). Ein Gedenkstein am Rathaus erinnerte bis 1990 an ihren Einsatz im Interesse Tausender Meißner.


Butter-Hörigs


Die jüngere Schwester meiner Mutter wohnte auf der Zaschendorfer Straße und damit auf der rechten Elbseite. Ihre Wohnung befand sich in der Dachetage des Hauses mit der Fleischerei Haufe (heute Sparkasse). Über Jahre erwähnte niemand von der ganzen Verwandtschaft den dort im Nachbarhaus wohnenden Arno Hörig - meinen Großonkel. Doch dann wurde doch über ihn gesprochen , auch darüber, daß er im Ersten Weltkrieg ein Pferd zur Gestellung abliefern mußte. Er konnte sich ausmalen, was sein Pferd im Kriegseinsatz zu erwarten hatte. Über diese Aussicht heulte er wie ein kleines Kind. Zusätzlich fehlte natürlich das Pferd für Belieferung seiner Kunden mit Butter. Beim Austragen der Butter zu den einzelnen Kundenwohnungen half zuweilen auch meine Mutter in ihrer Kinderzeit, um die Haushaltskasse der< Familie aufzubessern. Großonkel Arnos Kinder haben sich bei solchen Aktionen offensichtlich kurz gehalten. Dafür war seine Tochter die erste Frau in Meißen, die einen Führerschein für das Autofahren erwarb. Beide Hörig-Kinder waren mit im Bunde, wenn auf Demonstrationszüge der Arbeiterparteien Bierseidel von einer gastronomisch genutzten Dachterrasse mit großem Hallo geworfen wurden. Immerhin war besagte Hörig-Tochter während des Krieges Krankenwagenfahrerin. Ob sie dabei genug von den Folgen ihres Tuns zu Gesicht bekam? Jedenfalls siedelte sie bald nach dem Krieg in den Westen über. Und erst danach redete meine Großmutter wieder mit Großonkel Arno, der inzwischen auf dem Kalkberg wohnte. Für uns Kinder entwickelte er sich zum Lieblingsonkel. Er hatte eine Shou-shou-Hündin, die einmal Junge bekam, deren Rasse-Reinheit erst nach Monaten an der blauen Zunge erkannt wurde. Letztlich siedelte auch er zu seinen Kindern in den Westen über. Es waren halt seine Kinder, die dort wohnten. Vor diesem Schritt beratschlagte er sich mit meiner Großmutter. Aber dann kam kaum eine Information von ihm zu uns.


Caspars


Von Großmutters Geschwistern muß hier unbedingt über Großtante Ida - auch Caspar-Tante genannt - berichtet werden. Sie wohnte von Großmutter nicht weit entfernt hinter der Neumarktschule auf der Neugasse. Sie war sehr wortgewandt, war über alle Buschfunk­Nachrichten informiert, besaß wie meine Großmutter einen Schrebergarten an der Zaschendorfer Straße und außerdem noch einen kleinen Garten am Burgberg und mehrere Weinberge. Sie stieg als 80-jährige bei den Priestewitzer Verwandten noch auf den Kutschbock. Davon ließ sie erst ab, als die Pferde mal anruckten und sie wochenlang die Folgen auskurieren mußte.


Sie redete schon los, kaum daß sie Großmutters Türklinke in der Hand hatte: "Mart'l, haste schon gehört, ...". In dieser Zeit stand in der Zeitung keine regimekritische Meldung. Daß eine Besatzungsmacht nach den Verfehlungen der Nazipresse die Zügel fest in der Hand hält, ist gewiß verständlich. Ohne Kritik regiert es sich leichter, und einen hochangesehenen Posten verliert man bei straffen Zügeln nicht so leicht, dachten die DDR-Oberen. Sie wußten, daß ihr Regime auf wackligen Füßen stand. Die Methoden der Machtdurchsetzung waren weit von Demokratie entfernt und mußten von etlichen Bürgern auf Kosten ihrer Freiheit und ihrer Gesundheit bezahlt werden. Als Alternative zur fehlenden Pressefreiheit blühte der Buschfunk. Man wußte allerdings nie, ob nach vielfacher Weitergabe einer Meldung aus einer Mücke ein Elefant geworden war. Erst viele Jahre später erfuhr ich, was „Diversion“ in den offiziellen Meldungen über Gerichtsverfahren bedeutete. Allein nach dem Strafmaß glaubte ich an schlimme Sachen. Die Gerichtsberichte enthielten keine Erläuterung. In den DDR-Zeitungen wurden allerdings die Buschfunkmeldungen, die täglich von Bürger zu Bürger weitergetragen wurden, als RIAS-Enten diffamiert. Der Rundfunk im amerikanischen Sektor Berlins (RIAS) durfte offiziell keine Korrespondenten in den Osten schicken. Also nutzte er die Buschfunkmeldungen von Flüchtlingen aus der sowjetischen Zone – später DDR – und von Grenzgängern für seine Berichterstattung. Gleichgültig, ob eine Meldung der Wahrheit entsprach oder nicht, wenn ein Informant erwischt wurde, gab es härteste Strafen. Zuerst glaubte ich, daß die Zeitungsmeldungen über solche Gerichtsverfahren Einzelfälle seien. In größeren Abständen kam ich mit Menschen in Kontakt, die selbst oder ihre nächsten Angehörigen inhaftiert waren. Die Caspar-Tante ist trotz ihres lockeren Mundwerkes nicht angegangen worden.


Mein Cousin hatte im Rahmen seines Studiums mehr als genug Rotlicht-Bestrahlung erhalten. Als Folge dessen reagierte er auf jede angebliche RIAS-Ente mit einem Wutausbruch. Manch anderer Rotlicht-Bestrahlter hat in solchem Fall mit einer Anzeige bei den „zuständigen Organen“ reagiert. Immerhin konnte die Caspar-Tante ihrem Mundwerk freien Lauf lassen. Sicherlich wußte sie, mit wem sie ein offenes Wort sprechen durfte. Zudem kam eine Frau von gut über die Siebzig nicht so schnell vor den Kadi.


Natürlich führten die Buschfunk- und RIAS-Meldungen dazu, daß zunehmend mehr Menschen die DDR verließen und dabei auch manches geistige Eigentum mitnahmen. Natürlich bedeutete das eine Schwächung der DDR. Aber ursächlich Schuld daran war die restriktive Informationspolitik der DDR-Oberen.


Aber zurück zur Caspar-Tante: Sie hatte zwei Söhne auf den Weg in interessante Berufe gebracht. Der eine war Lehrer, hatte sich nach Mittweida verheiratet und ging später nach dem Westen. Sein Bruder hingegen, der Caspar-Willy, war von Beruf Porzellanmaler in der Staatlichen Manufaktur. Er war ebenso wie seine Mutter passionierter Hobby-Weinbauer. Er hat meiner Großmutter mal die Stube gemalert. Zuerst hat er eine kleine Fläche geweißt und dann dort etwa zehn verschiedene Rollen bzw. Farben ausprobiert und zur Auswahl angeboten.


Altbauer Oswald Hörig


Großonkel Oswald wohnte während meiner Schulzeit auf seinem Altteil in Weinböhla. Er war eine Seele von Mensch; er strotzte trotz seiner 80 Lenze noch von Kraft, obwohl seine Hände vom Zittern geplagt waren. Das für diese Gegend ziemlich große Gut in Jessen bei Gröbern hatten er und seine Frau Jahre zuvor ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn Grimm übergeben. Im Altenteil-Vertrag war eine lebenslange Versorgung des Altbauern vereinbart. Die Tochter starb nach längeren gesundheitlichen Problemen mit relativ jungen Jahren. Damit kam das Gut in die Regie des Schwiegersohnes Grimm und nach dessen Tod entsprechend Erbrecht allein in die Hände der Grimmschen Verwandtschaft. Des Schwiegersohns Tod war so simpel wie irrsinnig. Beim Einmarsch der Roten Armee in Jessen stellte er sich demonstrativ in den Hofeingang und sagte einem Soldaten, daß er hier nicht hereinkäme. Der krümmte nur kurz den Zeigefinger und kam doch in den Hof.

Gegen die Betreiber des Hofes mußte Großonkel Oskar prozessieren, um entsprechend seines Altenteil­Vertrages je Woche seinen Quark und ein halbes Stück Butter zu bekommen.


Berliner Tante


Außerdem hatte meine Mutter in Berlin eine Tante, die ihre Patenschaft für meine Mutter sehr ernst nahm. Immerhin nahm sie meine Mutter - natürlich lange vor meinem ersten Schrei auf dieser Welt - in den Urlaub mit: einmal nach Bad Diweno auf der Insel Wollin und das andere Mal nach Berchtesgaden. Meine Mutter hatte für den Lebensunterhalt der Familie bei "Herrschaften" putzen müssen, aber dann zwei solche Fahrten mit der Berliner Tante - immerhin! Das füllte die Träume meiner Mutter bis an ihr Lebensende aus. Und als die Tante krank war, besuchten wir sie. Zu dem Zeitpunkt war Dresden noch eine intakte und friedlich erscheinende Stadt. Aber Berlin war schon seit längerem im Bereich der englischen und amerikanischen Bomber. Innerhalb Berlins konnten wir mit jedem Verkehrsmittel meist nur zwei oder drei Stationen fahren. Dann kam über Lautsprecher die Ansage, daß man hier in ein bereitstehendes anderes Verkehrsmittel umsteigen solle. Irgendwie kamen wir - allerdings mit Zeitverzug - doch an unser Ziel. Im Krankenhaus erhielten wir dann die Auskunft, daß die Tante in ein anderes Krankenhaus verlegt worden sei. Dann begann Fahren und Umsteigen von vorn. Letztlich fanden wir die Tante doch noch und konnten mit ihr sprechen. Einige Tage später besuchten wir in Dresdens Friedrichstädter Krankenhaus Tantes Freundin, die auf ein Ansprechen nicht mehr reagierte, da ihre Lebenskräfte am Ende waren.


Afrika:


Afrika-Tante


Eine weitere Tante meiner Mutter hatte sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Swakopmund - heute zu Namibia gehörend - niedergelassen. Sie mietete einen Laden in dem Haus, das offenbar das einzige in Stein gebaute Geschäftshaus war.Heute steht auf der Stirnfläche: „Ein Jahrhundert Südwest“. Diese Aufschrift fehlte natürlich auf dem Foto, das ich als Kind mir öfter angesehen habe. Die Tante stellte mehrfach „Leute aus dem Busch“ für einfache Arbeiten ein. Nachdem diese zu einem Werkzeug aus Stahl gekommen waren, das sie im Eigenbau so nicht herstellen konnten, verschwanden sie eines Tages trotz vorherigen Einvernehmens spurlos. Die Berichte über diese Tante während der Internierung und nach dem Krieg sind widersprüchlich.


Buschfunk-Meldungen vor '45


Aus Großmutters Nachbarhaus wurde nach Beobachtungen meiner Mutter ein Mann „abgeholt“, der Mitglied des Spielmannszuges beim Meißner Rotfrontkämpferbund war. Über seinen Verbleib hörte man nichts. Er kam einfach nicht wieder. Eine Frage dazu offen zu stellen, getraute sich niemand.


Ein anderer Fall: In einem weiteren Haus auf dieser Straße kam ein SS-Mann auf Urlaub und berichtete seiner Mutter, daß er wider allen Gesetzen und aller Vernunft Menschen umgebracht habe. Das habe er kniend gebeichtet. Seine Mutter wurde mit dieser Meldung nicht allein fertig und vertraute sich anderen an.


Elterns Anfang in Dresden


Meine Mutter hatte in dem Lebensmittelgeschäft Fichtner auf der Meißner Neugasse Verkäuferin gelernt. Die Arbeit endete meist erst nach 20 Uhr mit der Reinigung des Ladens. Irgendwie (offenbar mit Zochers Hilfe) fand sie Kontakt zur SPD. Die Arbeitsbedingungen kamen dabei gewiß zur Sprache. Über diesen Kanal fand sie schließlich zu der neuen Arbeitsstelle KONSUM-Genossenschaft – also ein Betrieb, der aus Arbeitergroschen aufgebaut worden war. Zuerst war es eine Fleisch-Filiale auf der Neugasse auf Meißens Neugasse, dann ein Dorf-KONSUM in Miltitz­Roitzschen, etwa zehn Kilometer ab Meißen in Richtung Nossen durch das Triebischtal. Hier herrschte ein gutes Einvernehmen zwischen Verkäuferin und Kunden. Um 1936 jedenfalls machte der Büchsenmilchgroßhändler namens Richard Feig auch seine Tour durch das Triebischtal und damit zum KONSUM in Miltitz-Roitzschen. Irgendwie muß es zwischen beiden gefunkt haben. Meine Mutter wechselte vom Dorf-KONSUM zu WOOLWORTH direkt am Dresdner Altmarkt - für sie gewiß die große weite Welt. Später half meine Mutter auch in Vaters Einzelhandelsgeschäft auf der Waldschlößchenstraße.


Die elterliche Wohnung


Meine Eltern hatten im Mai 1939 geheiratet. Wegen eines speziellen Hochzeitsgeschenkes mußten sie warten, bis alle Gäste in den großen Raum hinübergegangen waren. Jetzt wollten sie das "Geschenk" "Mein Kampf" aus der Aufstellung der Geschenke entfernen. Aber zu spät! Diese Aufgabe hatte schon jemand anderes unbemerkt wahrgenommen. Meine Eltern hatten sich auf der Mathildenstraße - also im Zentrum zwischen Pirnaischen Platz und Ausstellungsgelände (heute VW-Manufaktur) am Großen Garten - eine Wohnung eingerichtet. Die "gute Stube" zeigte zur Straße, wo sich ein Balkon anschloß. Die Polstergarnitur war - so meine Erinnerung - in weißes Leinen als Staubschutz eingepackt, damit alles unversehrt bleiben sollte, bis Vater aus dem Krieg heimkehrt. In der Mitte stand ein ausziehbarer runder Tisch. Einige Male habe ich auf dem Balkon geplanscht. Überzähliges Wasser tropfte auf den Fußweg hinunter. In die "gute Stube" durfte - von extremen Ausnahmen abgesehen - niemand. Dann und wann mußte der Raum mal gelüftet werden, oder der Balkon sollte mal genutzt werden. Das war meine Gelegenheit. Ich fuhr Mutter mit dem Dreirad hinterher und schwupps, umkurvte ich den großen runden Tisch. Mutters Reaktion war, sofort in halbgebückter Haltung den Tisch zu umrunden. Dann atmete sie auf und sagte erleichtert: "Nichts passiert!" Wenn sie gewußt hätte, daß der Tisch 1945 ohnehin als Feuerholz enden würde, ... . Zum normalen Aufenthalt diente die kleine Stube. Meine früheste, von Mutter unabhängige Erinnerung sieht mich in meinem Bett - anfangs noch gegen Herausfallen geschützt, das in dieser Stube stand. Nun hatte meine Mutter die Angewohnheit, sich rückwärts an mein Bett zu stellen und so die nächsten Schritte ihrer Hausarbeit zu planen. Meine Gelegenheit! Schürzenbänder aufziehen, sich fallen lassen und so tun, als hätte ich nichts getan. Und meine Mutter fiel immer wieder darauf herein.


Mutters Fahrrad stand üblicherweise im Korridor. Als ich etwas größer war, stellte ich mich auf die Pedalen des Fahrrades oder auf den Fußtritt der Kastennähmaschine, um mich auf mein Autofahrerdasein vorzubereiten.


Die Aussicht auf Straße wie auch auf den Hof zeigte keinen einzigen Halm Grünes. Aber nur zwei Straßenecken weiter begann das Ausstellungsgelände und damit der Große Garten und damit zwei Quadratkilometer Grün. Zu Bürgerwiese und Elbwiesen war es nur unwesentlich weiter.


Eine Woche vor meiner Geburt wurde mein Vater zur Wehrmacht eingezogen. Geboren wurde ich in der elterlichen Wohnung. Die Hebammen-Funktion übte meine Großmutter aus.


Als Königsberg und Breslau im Januar 1945 schon von der Roten Armee erdrückt wurden und die anderen deutschen Großstädte im Aktionsradius der englischen und amerikanischen Flugzeuge waren, hatte Dresden noch seine Flaniermeilen Prager Straße, am Goldenen Reiter und die Herkulesallee. So konnte meine Mutter mit mir bis Januar 45 diesen Vorteil nutzen. Und sie machte davon reichlich Gebrauch. Im Gespräch waren seltsame Gerüchte bis zu angeblichen Abmachungen zwischen den Kriegsparteien, Dresden zu verschonen.


Ein etwa zwei Jahre älterer Junge von gegenüber bastelte mir mehrfach Schiffchen aus Papier. Wir freundeten uns an. Eines Tages marschierten mehrere Kompanien Soldaten durch unsere Straße aus Richtung Hygienemuseum in Richtung Elbe. Plötzlich ging gegenüber die Haustür auf und mein Freund kam mit seinem Vater heraus. Beide reihten sich an das Ende einer Kompanie ein. Ich wußte nicht, wohin die Reise ging. Das Leben nahm zunehmend kriegerischere Züge an. Einmal begegnete uns ein junger Uniformierter mit einem besonderen Dolch. Er bemerkte, daß er beobachtet wurde, und blickte freundlich zurück. Mir kam die Sache ungeheuerlich vor. Ein anderes Mal fuhr auf einem Bahndamm ein Güterzug mit Kanonen und anderem Kriegsgerät. Auf mein Befragen lenkte meine Mutter üblicherweise ab.


Im Großen Garten blieb es friedlich bis zuletzt. Kutschen mit Kleinpferden boten Fahrten an. Vor dem Ausstellungsgelände dagegen standen meist etliche Militärautos. Dort führte meine Mutter einmal ein Gespräch mit einem Mann, der eine freundliche Bemerkung zu meiner Person gemacht hatte. Meine Mutter drückte im Angesicht der Militärautos die Hoffnung aus, daß Frieden sein möge, wenn ich einmal in sein Alter käme. Er amüsierte sich darüber, weil es schon immer Kriege gegeben habe und es folglich so auch in Zukunft sein werde. Eine solch pessimistische Haltung hatten infolge Indoktrination und auch eigener Anschauung damals viele Menschen.


Cousin als unreifer Schauspieler


Als Drei- bzw. Vierjähriger wurde ich nicht in alles eingeweiht. Ursache dafür war mein Cousin und die Buschfunknachricht, daß einige Menschen nur deshalb in Gefängnis oder KZ landeten,weil ihr eigenes Kind sie beim London-Hören o.ä. "staatsfeindlichen Tätigkeiten" überrascht hatte. Die Kinder waren oft in der Schule so aufgeputscht worden, daß sie ihre eigenen Eltern in der Schule oder bei der HJ anzeigten. Als der Krieg zu Ende und damit diese Gefahr vorerst vorüber war, berichtete mir meine Mutter: Mein Cousin (Geburtsjahr 1929) war anwesend gewesen, als die Großfamilie - soweit in Meißen wegen der Einberufungen noch verfügbar - sich in Tantes Wohnung traf, wohl Kaffee getrunken und nebenher Witze erzählt hatte. Davon ist mir nur ein Witz weitergeleitet worden und in Erinnerung geblieben: Die drei mächtigsten Nazigrößen fahren auf der Autobahn. Plötzlich liegt eine Kuh auf der Fahrbahn und geht trotz Hupens nicht von der Stelle. Hitler geht zu der Kuh, berichtet ihr von seinen Erfolgen. Die Kuh rührt sich nicht. Dann versucht es Göring, zieht an den Hörnern. Doch selbst der korpulente Göring ist zu schwach. Goebbels mit seinem Klumpfuß braucht man eigentlich nicht fragen. Doch er geht von selbst zu der Kuh, flüstert ihr etwas ins Ohr und ... hat Erfolg. Die beiden anderen sind verwundert und fragen ihn, wie er das bloß gemacht hat. Seine Antwort ist kurz und einfach: Er hat der Kuh ins Ohr geflüstert: "Willst du in die Partei eintreten?"


Dieser Witz wurde einige Jahre später wieder aktuell, allerdings unter Austausch der Personen. Aber zurück in Tantes Wohnung. Hier hielt man sich die Bäuche über diesen und weitere ähnlich gestrickte Witze. Da war noch einer, bei dem der kleine Goebbels mit dem Nachttopf in der Hand etwas Markantes rief. Zu den Lachern gehörte auch mein Cousin, obwohl er die Witze altersbedingt nicht verstanden hatte. Die Gesellschaft änderte ihren Tagungsort in Richtung Großmutters Wohnung und damit notwendigerweise über den seitlichen Fußweg der Eisenbahnbrücke. Und genau dort trug mein Cousin eines der eben gelernten Witze wie ein Schauspieler vor. Großmutter und Tanten schwitzten Blut und Wasser, umringten den Jungen und zischten "Pst, pst,...". Glücklicherweise ging das Manöver gut aus.


Um Kopf und Kragen – Familie Gutherz


Mein Dresdner Onkel war vor dem Krieg Cheffahrer bei der jüdischen Spielzeughandelsfirma Gutherz auf der Hohen Straße in Dresden. Er chauffierte seinen Chef zu Messen, Produzenten, Einzelhändlern, Warenhäusern usw.. Unfallfreies Fahren mit einem ständig betriebsbereiten Fahrzeug war für Onkel Hellmut Ehrensache. Mit "seinem" Auto befand er sich quasi in einem Eheverhältnis. Entsprechend gut war das Verhältnis zwischen Chef und Fahrer. Als seine junge Familie eine Wohnung brauchte, war sein Chef behilflich,allerdings im Souterrain des Hauses. Damit war der Fahrer jederzeit abrufbar. Die Anfänge der Nazizeit nahm selbst in der Familie des Chefs niemand richtig ernst. Der Weltkriegs-Gefreite Hitler werde sich wohl bald die Hörner abstoßen. Doch etwas später brachte man vorsichtshalber das jüngste Kind der Familie nach Schweden.


Eines Tages wurden der Chef und sein fast erwachsener Sohn verhaftet. Beide kamen als einzige eines Judentransportes wieder frei. Was war geschehen? Der Senior-Chef erahnte wegen der Art der massenweisen Verhaftung von Juden, was die Peiniger mit ihnen vorhatten. Also ging er auf's Ganze. Er bat die SS-Leute, man möge ihn erschießen, aber dafür seinen Sohn freilassen. Jene, die die Macht über Leben und Tod hatten, aber erst durch die Uniform es "zu etwas im Leben" gebracht hatten, entließen Vater und Sohn. Die beiden trafen sich in ihrem Haus und verließen Deutschland auf dem kürzesten Weg. Als Firma Guthrie bauten sie sich in England eine neue Existenz auf. Meine Tante schickte ihnen nach dem Kriege zu Weihnachten stets einen selbstgebackenen echt Dresdner Stollen. Die Antwort: Gutherzens revanchierten sich ihrerseits mit einem englischen bzw. schwedischen Päckchen. Die damit zum Ausdruck gebrachte Freude war gewiß ein Zeichen ihrer Verbundenheit mit ihrer eigentlichen Heimat, aus der sie bei Gefahr um das eigene Leben hatten flüchten müssen.


Vaters Einberufung


Mein Vater wurde genau eine Woche vor meiner Geburt zur Wehrmacht eingezogen. Bei Kriegsbeginn war er samt Auto bereits mobilisiert worden und verbrachte ca. zwei Wochen in Riesa auf Bereitschaft. Mit seinem dreirädrigen Tempo-Lieferwagen hatte man aber kein Interesse mehr an ihm, zumal sich der Ausgang des Polen-Feldzuges bereits abzeichnete. Aber Anfang 1941 wurde es ernst. Nach Dünkirchen fühlten sich die obersten Nazigrößen zu noch weiteren Feldzügen berufen. Auf dem damals wohl größten Truppenübungsplatz Munster wurde mein Vater zum Soldaten ausgebildet. Das Wort "abgerichtet" ist wohl ebenso berechtigt. Jeder Befehl war bedingungslos auszuführen. Und mein Vater ließ dem Ausbilder dessen Unvollkommenheit spüren. Als nach dem Kommando zum Geradeauslaufen kein "Halt!" kam und ein Ballfangnetz für den Fußball vor ihm war, kletterte er dort hinauf, bis er zurückbeordert wurde. Zum Glück verletzte er sich beim Fußballspielen, sodaß er für den Transport in Richtung sowjetischer Grenze nicht einsatzfähig war. Daß das Aggressionsobjekt Rußland eine andere Größenordnung war und damit ein anderes Risiko bedeutete, darüber waren sich wohl die meisten Menschen im Klaren, trotz aller vorangegangener Gehirnwäsche und nationalistischem Hurra-Patriotismus. Man hatte schließlich in der Schule mal etwas über das Ende von Napoleons Großer Armee gehört. Das war aus Vaters späteren Berichten deutlich herauszuhören. Er kam dann zur Eisenbahnbegleit-Flak und über Holland nach Frankreich.


Brücken verbinden nicht immer


Eine Zwischenstation war Rotterdam. Bei Ausgängen kam er auch mit Holländern in Kontakt und in deren Wohnungen. Wenn es dann aber klingelte und ein ihm unbekannter Holländer hinzukam, wurde es ihm mulmig und er hielt die Arme so, daß ihm niemand so leicht an sein Seitengewehr kam. Und dann war da noch das Hochklappen der Brücken zu später Nachtstunde. Auf dem Weg zu seinem Quartier mußte er die Brücken überqueren. Das war nach dem Genuß gewisser Maße wohl jedesmal eine Angststrecke. In Rotterdam war es wohl auch, daß von der Besatzungsmacht ein holländischer Würdenträger im Leiterwagen durch die Stadt gekarrt wurde. Und deutsche Soldaten wurden zur kompletten Demütigung der Holländer an die Wegstrecke kommandiert.


Militär:


Als Gastwirtssohn beim Militär


Mein Vater erzählte mir mehrfach von einem Erlebnis in Frankreich: Die Kompanie war in einer Burg einquartiert. Man hatte genügend Rotwein. Vor dem Kompaniechef hatten alle Schmiß. Also vereinbarte man mit der Wache am Burgtor ein Zeichen für den Fall, daß das Chefauto in Sichtweite der Wache zur Burg kam. Das fröhliche Treiben konnte also seinen Lauf nehmen. Die Aufgabe meines Vaters bestand im Zubereiten eines guten Glühweines. Die richtigen Zutaten kannte er als Gastwirtssohn perfekt und alle waren zufrieden. Doch plötzlich stand der Alte mitten im Raum. Was war geschehen? Als ein Omnibus den Weg zur Burg hinaufschnaufte, wähnte die Wache keine Gefahr. Der Chef war ja stets per PKW gekommen. Doch als er aus dem Bus stieg, war es für ein Signal zu spät. Und derjenige, der die weiße Schürze umhatte, stand natürlich im Mittelpunkt.


Signal: leeres Dorf


Zum nächsten Schauplatz verging etwas Zeit, weil die Flakeinheit auch im Erdkampf eingesetzt wurde. Die Geschütze waren eingegraben. Doch bei einem Bombenangriff wurde mein Vater verschüttet und glücklicherweise noch rechtzeitig ausgegraben. Etwas später wurde er mit seiner Einheit neben einer Eisenbahnlinie stationiert. Ob die Einheit von englischen Flugzeugen attakiert wurde, darüber wußte man schon am Tag vorher Bescheid, weil sich der französische Koch aus irgendeinem familiären Grund auf Kurzurlaub meldete und mit ihm auch das ganze Dorf zu der gleichen angeblichen Familienfeier nach auswärts fuhr. Die Alliierten hatten also offensichtlich über die Resistance die Bevölkerung gewarnt.


Kriegsgefangene in Dresden


Unsere Wohnung auf der Mathildenstraße hatte keinen Grünblick. Der einzige Ausgleich dafür war die geringe Entfernung zum Großen Garten. Die Kavaliershäuschen waren mit Stacheldraht umgeben und dienten als Unterkunft für gefangene englische Fliegeroffiziere. Sie hatten wenig Auslauf und sonnten sich vor ihren Unterkünften. Dabei packten sie ihre offenbar über das Rote Kreuz erhaltenen Päckchen aus. Nach all dem, was es da trotz nahendem Kriegsende so alles gab, gingen meiner Mutter die Augen über. Diese Darstellung stammt aus späteren Erzählungen meiner Mutter. Aber das Folgende hat sich (heute sagen wir "live") bei mir eingeprägt. Eines heute nicht mehr genauer feststellbaren Tages (sicherlich noch vor dem Bombenangriff) warteten wir auf dem Postplatz auf eine Straßenbahn. Da wurde es unruhig zwischen Schauspielhaus und Zwinger. Viele Leute ließen Straßenbahn Straßenbahn sein und bewegten sich in Richtung der Unruhe, also wir auch. Da kamen kolonnenweise Kriegsgefangene mit Spaten oder Schaufel über der Schulter. Einige Frauen neben uns rumorten geringschätzig: "Wie die aussehen?" Wahrhaftig ein drastischer Unterschied zu den gefangenen Fliegeroffizieren im Großen Garten! Trotzdem entgegnete meine Mutter, ohne jemand speziell anzusehen: "Wer weiß, wie unsere Männer heute aussehen?"


Die letzten Wochen der 1000 Jahre


Einmal hatte mein Vater mit seiner Flak einen Zug mit fabrikneuen Panzern nach Stettin zu begleiten. Bevor die Panzer östlich von Stettin abgeladen waren, waren sie schon eingekesselt. Die eben abgeladenen Panzer schlugen eine Bresche in den Ring. Damit kam der Zug wieder heraus, und mein Vater wurde vor der russischen Gefangenschaft verschont. Die Alternative war auch nicht viel erbaulicher. Auf der Rückfahrt sah er von weitem riesige Rauchwolken in der Umgebung Swinemündes. Viele Jahre später hatte ich auf der Insel Usedom mein Landschulpraktikum zu absolvieren. Gemeinsam mit meinem Mentor fuhr ich ins Nachbardorf Kamincke, das heute direkt an Haff und Polen angrenzt. Per Motorroller suchte ich den Waldfriedhof der Bombenangriffsopfer von Swinemünde auf.Offenbar hat man den Grenzverlauf so festgelegt, daß zumindest dieser Friedhof der deutschen Seite überlassen blieb. Vaters Zug kam von Stettin aus nach Hamburg. Mein Vater bemerkte dazu später, daß Hamburg bereits total zerstört war, als Dresden noch (!) einen friedlichen Eindruck machte.


Dann war noch Giftgasmunition bei Torgau mittels Versenkens in der Elbe zu vernichten. Man war sich offensichtlich über das kommende Kriegsende im Klaren und auch über die Tatsache, daß Giftgas nicht den Kriegskonventionen entsprach und folglich nicht in die Hände der Sieger fallen sollte.


Nach langen Deb atten über Sinn oder Unsinn der Reise, fuhr meine Mutter zu meinem Vater nach Elsaß-Lothringen, da es offenbar die letzte Möglichkeit vor dem nahenden Zusammenbruch war. Auf der Hinfahrt wurde der Zug von Flugzeugen umkreist. Wer irgendwie an ein Fenster kam, beäugte und beurteilte diese Flugzeuge. Nach einiger Zeit trat Ruhe ein, weil man sich einigte, daß dies "eigene" seien. Außerdem würde ohnehin zuerst die Lok außer Betrieb gebracht und dann erst die Waggons beschossen. Zwischenzeitlich könne man sich den Bahndamm hinunterlassen. Doch es kam anders: Die Flugzeuge griffen erstmals einen Zug von hinten an. Kurze Zeit später kamen Bauern mit den für einen solchen Fall präparierten Schubkarren. Die Liste des Leides war lang - bis zu getödeter Mutter und eines am Leben gebliebenen Säuglings. Der Angriff forderte fast 100 Todesopfer. Man ging in Richtung Dorf, um sich für den weiteren Weg vorzubereiten. Ein Mann in der Nähe meiner Mutter machte einen relativ sorglosen Eindruck. Er verwies auf seinen Koffer, der einen Schuß abbekommen hatte. Die Alkoholflaschen im Inneren hatten den Schuß abgelenkt und somit ihm das Leben gerettet. Irgendwie kam meine Mutter doch noch zum Standort meines Vaters. Die Besucherinnen wurden in den Speisesaal geleitet und anschließend die zugehörigen Soldaten gerufen. Doch plötzlich kam ein Vorgesetzter herein und rief: "Alle Frauen sofort das Objekt verlassen! Die Amerikaner sind in unmittelbarer Nähe." Damit war dieses Kapitel beendet.


Der Bombenangriff auf Dresden


Meine Mutter bekam hin und wieder eine Postkarte aus Meißen mit etwa folgendem Inhalt: Verkäuferin ist krank. Bitte komme helfen. Dann packten wir das Nötigste zusammen und fuhren per Dampfschiff oder Bahn in das etwa 25 km stromabwärts gelegene Meißen zur Großmutter. Für die nächsten Tage war ich in guter Obhut. Im Gegensatz zu meinen beiden Cousinen, hatte ich kein Verlangen zu Großmutters Nähkasten. Wenn schon, dann waren hinterher alle Scheren u.ä. am alten Platz. Meine Mutter arbeitete im Lebensmittelladen Feldmann auf der Neugasse oder bei Trobischs in Bohnitzsch links vor dem damaligen Neubaukomplex. Eines Morgens meldete sich Großmutters Nachbarin, zu der wir nur ein mäßiges Verhältnis hatten, um mitzuteilen, daß Dresden brenne. Meine Mutter reagierte aufbrausend. Es sei doch nur eine Provokation der Nachbarin! Immerhin galt Dresden als neutrale Stadt. War das mit der neutralen Stadt nun Wissen oder Hoffnung? Ich sah aus dem Fenster des kleinen Zimmers hinaus. Die Bedeutung der ganzen Aufgeregtheit war mir nicht klar. Erst viel später stellte ich fest, daß dieses Fenster in die falsche Richtung zeigte. Die Frauen gingen an der Gaststätte "Hopfenblüte" und der Bäckerei Geckerts vorbei zur Einfahrt von Teicherts Manufaktur. In Richtung Dresden war kurz hinter der Manufaktur der Plossenberg. Trotzdem war in dieser Richtung der Himmel auch auf diese Entfernung noch grellrot. Das mußte ein Inferno in Dresden sein. Meine Mutter kam wie geschlagen zurück. Und unsere Wohnung lag mitten im Zentrum! Das war eindeutig! Später erfuhren wir, daß unser Haus keinen Treffer abbekommen hatte. Man wartete im Luftschutzraum. Die Keller waren ohnehin von Haus zu Haus verbunden. Nach dem Übergriff des Brandes haben die Kellerinsassen den Keller verlassen. Aus unserem Haus konnten sich bis auf eine Ausnahme alle Mieter retten. Die zuletzt aus dem Haus kommende ältere Frau wurde von einem herabstürzenden Stein getroffen. Eine andere Frau hatte im Waschhaus Wäsche eingeweicht. Das Waschhaus hielt wegen seiner Feuchte der Hitze stand. Diese eine Frau hatte sogar einen Teil ihrer Wäsche gerettet.


Einige Tage später saß ich in Großmutters Stube und hörte Radio. Nach einer Vorankündigung vernahm ich eine pathetische Stimme, die von schweren menschlischen und materiellen Verlusten sprach. Zudem sei auf lange Zeit hier in Dresden die Kultur ausgelöscht. Meine Mutter hatte eingehalten, um diese Worte zu hören. Nach dem Ende sagte sie: "Wo kommt denn der plötzlich her? Läßt lange nichts von sich hören. In dieser Situation taucht er plötzlich wieder auf." Bei damaliger Kenntnis von Gerhard Hauptmanns Biografie hätte sie sicher andere Worte gebraucht.


Eine Woche später fuhr meine Mutter nach Dresden. Der Zug fuhr nur bis Neustädter Bahnhof. Auf der Marienbrücke begegneten ihr Pferdefuhrwerke mit aufgestapelten Toten - offenbar in Richtung Heidefriedhof. Nur die Hauptstraßen waren notdürftig vom Schutt befreit. Es gelang ihr, zwei Koffer voll Meißner Teichert-Porzellan aus unserem Keller einzupacken. Auf dem Weg zum Bahnhof fielen einem Mann mit Fahrrad die beiden schweren Koffer auf. Er bot an, diese auf dem Gepäckträger zum Bahnhof mitzunehmen. Nur Pech, daß kurz vor dem Bahnhof ein Koffer davon auf die Straße stürzte. Das volle Ausmaß wurde erst in Meißen beim Auspacken erkannt. Zwei weitere Wochen später fuhr meine Mutter mit mir und dem Leiterwagen nach Dresden. Meine Aufgabe war, an der Hauptstraße mit dem Handwagen zu warten, während meine Mutter von Stein zu Stein sich bis zum Haus vorankämpfte, dort mit dem Hauswirt sprach und dann unsere Zinkwaschwanne aus dem Keller holte. Genau dieser Hauswirt hatte einige Monate vorher bei uns geklingelt, um Mutter dazu zu bewegen, die Fahne wegen irgendeiner Nazifeier hinauszuhängen. Meine Mutter stellte in Frage, ob das jetzt noch sinnvoll sei. Als Drei- oder Vierjähriger hatte das Ding bei mir nur eine Bedeutung, weil es sich "so schön" im Wind bewegte. Jedenfalls war das Ding inzwischen auch verbrannt. Meiner Mutter verblieb der Spott über die Ankündigung Görings, Meyer heißen zu wollen, falls ein einziges ausländisches Flugzeug deutsches Gebiet überfliegen sollte. Nun kamen sie selbst bis zu dem von England weit entfernten Dresden je Welle zu Hunderten.


Zum Kriegsende in Meißen


Unser Wohnort war nun zwangsweise Meißen. In Großmutters Wohnung brachte meine Mutter zuweilen Flüchtlinge mit, damit sie sich vor der Weiterfahrt reinigen und eine Nacht ordentlich schlafen konnten. Am Hahnemannsplatz stand ein Halbkettenfahrzeug. Ein anderes Mal kam aus dieser Richtung eine Hundertschaft HJ. Die Kleinsten marschierten vorn, die Großen hinten. Da war ganz schön Schmiß drin. Den Bäcker von nebenan sah ich öfter mit seinem Rot­Kreuz-Fahrzeug an- und wieder wegfahren. Gegenüber auf dem Schulgelände machte der Volkssturm Dreieckzielen. Bekannte, die auf der Rauhentalstraße wohnten, berichteten später von Gefangenentrecks, die diese Straße entlanggetrieben wurden. Jene Gefangenen, die es nicht mehr schafften, wurden erschossen. Unsere Bettwäsche und andere wertvolle Dinge - soweit noch vorhanden - waren entweder in Coswig bei der Gärtnerei Roch oder in Großmutters Garten vergraben.


Eines Tages fuhr ein LKW in Richtung Elbe an Großmutters Haus vorbei mit quer zur Fahrtrichtung aufgereihten Menschenleibern, die nur Unterwäsche anhatten. Ich rannte zu meiner Mutter, berichtete ihr davon. Sie meinte, daß ich mich getäuscht habe, um mich zu beruhigen. Doch richtig beruhigen konnte sie mich nicht – bis heute nicht.


Jeden Abend trat ein Angstmoment auf, um auch rechtzeitig die Verdunklung mit den kleinen Hebeln am Fenster vorschriftsgemäß zu haben. Andernfalls klopfte es und der Luftschutzwart rügte unser Verhalten. Als die Front sich näherte, kam meine Tante von der anderen Elbseite auch noch in Großmutters Wohnung. Nachdem sich einige Tage nichts getan hatte, fuhr sie mit ihren Kindern per Fähre wieder auf die andere Elbseite in ihre Wohnung. In der Nacht rief mein Cousin, daß sich etwas auf der Straße bewege. Meine Tante nahm ihre kleine Tochter und ging mit meinem Cousin in den Keller. Und als sie die andere Tochter holen wollte, war diese tot. Eine Granate war durch das Dach gekommen, allerdings ohne zu explodieren. Die Tante rief bei Großmutters Hauswirt an. Entsprechend der Mitteilung machten wir uns auf den Weg zur anderen Elbseite. Wir haben uns von der Fähre übersetzen lassen. Eine Handbreit mehr Tiefgang fehlte nur für einen Untergang. Der an den Elbwiesen entlang führende Weg war durch schmale Schützengräben unterbrochen. Die Soldaten machten Scherze und unterhielten sich. Nur einer sah konzentriert durch sein Fernglas. Meine Mutter fragte die Soldaten, ob wir gefahrlos weitergehen können. Aber natürlich, war die Antwort. So kamen wir in der Wohnung der Tante an. Meine große Cousine war im Waschhaus aufgebahrt. Vom Durchbrechen der Zimmerdecke rührten offenbar Flecke im Gesicht her. Die ganze Tragweite habe ich nicht verstanden. Meine Mutter hat die Wege auf die Ämter besorgt. Mit jedem Granat-Abschuß wurde von jemandem „Hinlegen!“ gerufen. Die Beisetzung fand noch vor dem Einmarsch statt. Genau genommen fand in Meißen der Einmarsch zweimal statt. Wir waren inzwischen wieder auf der linken Elbseite in Großmutters Wohnung. Ich erinnere mich an die Panzer, die direkt vor Großmutters Haus hielten. Aus dem Nachbarhaus kam eine Familie und setzte ihre Kinder zu den Soldaten hoch. Waren es die Kinder jenes RFB-Musikzugmannes, der abgeholt worden war und nie wieder kam? In Erinnerung sind mir die Panjewagen, mit denen offenbar kleine Versorgungsaufgaben erfüllt wurden. Auf dem Schulhof gegenüber wurde in einer Gulaschkanone Essen gekocht. Mit den Essengeschirren und Milchkannen wurden die Kinder vorgeschickt. In den ersten Tagen waren Radios und einige weitere Gegenstände abzuliefern. Außerdem kamen Offiziere von Wohnung zu Wohnung, um sich jeden Schrank und weitere Objekte, in die man einen Menschen hätte verstecken können, öffnen zu lassen. Sie verhielten sich korrekt und respektierten sogar die Mittagsruhe der Kinder. Paßkontrollen erlebte ich auf der provisorisch für Fußgänger hergerichteten Eisenbahn-Elbbrücke und in Eisenbahnzügen. Meine Mutter hatte vorsorglich die Hakenkreuze aus allen Dokumenten herausgeschnitten. In vielen Städten waren inzwischen ganze Stadtteile mit grünen Brettern zugenagelt. Das Gelände dahinter war als Kasernengelände zu betrachten. Auch in den Wäldern lagerten Soldaten. Die Beschilderung der Autobahn (also auch in der Nähe unserer späteren Unterkunft an der Auffahrt Wilder Mann) fand mit kyrillischen Buchstaben statt, erst später zweisprachig. Eisenbahnzüge, so auch zwischen Dresden und Meißen, hatten oft mehr Wagen für die Besatzungsmacht reserviert als andere. Großmutters Nachbarin schaffte sich einen russischen Freund an, öffnete offenbar die Kellerschlösser und ging von Keller zu Keller. Immerhin hatten wir dort Koffer von der halben Verwandtschaft eingelagert. Mit einem Messer wurden nur die Koffer geöffnet, die verschlossen waren. Dort muß es sich gelohnt haben. In Tante Liesbeths Haus wohnte eine Frau, die in der Küche einer Kaserne arbeitete und öfter uniformierten Besuch hatte. Auch durch einen anderen Fall ist bekannt, daß nach einer gewissen Zeit ein solcher Kontakt von der Kommandantur als Feindkontakt gewertet wurde. Also suchte die Militärpolizei eines Tages ihren eigenen Soldaten in der fraglichen Wohnung. Fehlanzeige! Der Adressat stand zwischenzeitlich auf dem Gerüst vor dem Haus.


Ein arger Anschauungsunterricht für sowjetischen Humanismus: Als ich mit meiner Mutter auf das Neustädter Bahnhofsgebäude zuging, kamen zwei Offiziere und hatten einen gefesselten Soldaten an Händen und Füßen gepackt, der schrie, als wollte man ihn abstechen. Die Offiziere warfen ihn auf die Ladefläche, klopften sich die Finger ab und gingen wieder in den Bahnhof.


Eines Tages brannte der Feuerwehrturm neben der Neumarktschule. Viele Frauen kamen mit Eimern und löschten mittels einer langen Kette den Brand.


In der Wohnung unter uns wohnte ein vormaliges Mitglied der Nazipartei, der es offenbar durch seine Partei vom Straßenkehrer zum Meister dieser städtischen Einrichtung gebracht hatte. Nun mußte er seine Wohnung für einen sowjetischen Offizier und dessen Frau räumen. Die Frau hatte mich wie ihr eigenes Kind in ihr Herz geschlossen. Sie empfand es als Spaß, wenn ich mich hinter ihr versteckte. Nach russischer Art war an der Eingangstür ein Stuhl und ein kleiner Tisch, um Besuch mit schmutzigen Schuhen dort zu platzieren. Einmal wartete dort eine junge Offizierin (nach der Qualität der Uniform zu urteilen). Als ich wieder einmal mit der Hausfrau scherzte, brüllte die am Eingangstisch Sitzende los, schwang das Koppel über ihren Kopf und konnte nur mit sehr viel guten Worten beruhigt werden.


Es war die Zeit, da Menschen Ähren sammelten und dann die Körner heraustrennten. Auf großen Sieben wurden Weizenkörner vom Spreu getrennt. Im nächsten Arbeitsgang mußte die handgetriebene Kaffeemühle herhalten. Im Herbst gingen wir mit Handwagen und Körben die Landstraße nach Wilsdruff entlang, um am Ziel Kartoffeln zu stoppeln. Von der Gemeinde war ein Feld benannt worden, daß bestoppelt werden durfte. Doch der Bauer fuhr noch- und nochmal mit dem Roder über das Feld. Rings um das Feld standen lückenlos Menschen mit Leiterwagen, Hacken, Körben und häufig auch kleinen Kindern. Bei jeder neuen Runde des Bauern wuchs der Aufruhr. Dann endlich vermeldete er die Freigabe.Unser Aufenthalt in Meißen wurde aber beendet, weil wir in Meißen keine Lebensmittelkarten erhielten und folglich zurück nach Dresden mußten.


Vaters Gefangenschaft


Nach der Gefangennahme meines Vaters bekam er bei den Amerikanern einige Tage nur Schokolade, falls er etwas bekam. Dann wurde das Lager an die Franzosen übergeben. Da wehte ein härterer Wind. Als eine Rot-Kreuz-Delegation das Lager besuchte, hatte die Lagerleitung ein Transparent anbringen lassen, daß die "vorbildliche Versorgung" der Gefangenen pries. Im entscheidenden Augenblick stellten sich Gefangene vor dieses Transparent. Aber um die Demütigung des Absingens der Marseilles kamen sie nicht herum. Das war das Äquivalent für die Demütigung in Rotterdam.


Arbeit im Steinbruch ist sicher nicht die einfachste. Dabei wurden häufig Gefangene eingesetzt. So auch mein Vater. Dank seiner Sprachkenntnisse kam er mit einem Franzosen ins Gespräch. Dieser besorgte ihm zwei Weißbrote. Auf dem Weg zu seiner Baracke stürzte mein Vater und verlor die Besinnung. Die Weißbrote waren weg. Die Kameraden Sanitäter zogen den Vorhang zu und kochten sich auf ihrer Seite ihre Suppe. Meinen Vater hatten sie aufgegeben. In das Lager durften keine Zivilpersonen hinein. Es gab nur eine Ausnahme: der Pfarrer. Dieser durfte nichts mitbringen. Unter seinen Talar schaute allerdings kein französischer Posten. Und dort hingen Speckseiten. So wurde meinem Vater geholfen. Vom Lager kam mein Vater ins Klösterle von Ravensburg. Hier wurden die erfrorenen Vorderfüße amputiert, Haut über Kreuz von den Oberschenkeln an die Füße und Außenhaut von den Oberarmen an die Oberschenkel versetzt. Zur Durchblutungs­Unterstützung bekamen die Fußplastiken Hilfe von aufgewärmten Ziegelsteinen. Dabei besteht allerdings das Risiko einer Verbrennung. Für meinen Vater folgte daraus eine Operation zusätzlich. Die Betreuung war in Ravensburg so, daß mein Vater lebenslange Dankbarkeit empfand.


Auf der Rückertstraße


In Meißen bekamen wir keine Lebensmittelkarte. Folglich mußten wir zurück nach Dresden. Die Stadt Dresden ordnete uns ein Zimmer zur Untermiete auf der Rückertstraße in der Nähe des Hubertus zu. Von der Volkssolidarität erhielten wir Tisch, Bett und Stuhl. Unsere Wirtsleute hatten zwei Söhne. Der große Sohn dieser Familie absolvierte um diese Zeit sein Abitur. Danach begann er ein Studium an der TU. Eines Tages fand eine offensichtliche miltärische Übung auf der unmittelbaren Hauptstraße mit T34-Panzern und Ami-Jeeps statt. Das war für uns Kinder natürlich ein Ereignis.


Kriegerisch ging es auch in einem kleinen Wäldchen zu. Größere Jungs hatten Granatzünder unterschiedlicher Stärke in ihren Hosentaschen bzw. in Zigarrenkästchen. Ein Zünder wurde auf einen Stein gelegt. Ein anderer Stein wurde daraufgeworfen. Wessen Zünder den größten Knall erzeugte, der wurde natürlich gefeiert.. Daß dies Ärger bringen konnte, war mir bereits in meinem Alter klar.. Beim Spielen mit Munition gab es immer wieder Unfälle. Eine Zuordnung zum Werwolf aus diesem dummen Treiben am helllichten Tag war zwar abwegig, ist aber nicht auszuschließen.


Auf der Helgolandstraße


Wir wohnten eine Zeitlang auf der Helgolandstraße zwischen Schauburg und Hansastraße. In der untersten Etage war eine Bäckerei. Wir wohnten ganz oben in 1 1/2-Zimmern zur Untermiete. Zwei Schwestern waren unsere Hauptmieter. Später mußten wir samt Hauptmietern die Wohnung verlassen, weil ein Arzt gerade hier eine Praxis eröffnen wollte. Dabei war diese Wohnung zwar Wohnung der beiden Schwestern und ihres Vaters - einem Arzt, aber nie Praxis gewesen. Die beiden Frauen hatten schon ein Stück Welt gesehen. Sie waren in einer holländischen Kolonie geboren worden. Mehrere kunsthandwerkliche Gegenstände stammten von Java. Auch Päckchen aus Amerika verbesserten ihr Leben. Äpfel wurden nur geschält gegessen. Die Apfelschalen lagen dann in der gemeinsam genutzten Küche in einer Abfallschüssel. Verführerisch! Immerhin waren für fast alle Artikel beim Einkaufen Marken oder Bezugsscheine notwendig. Es ging wie ein Lauffeuer herum, wenn „Falscher Hase“ in einem Geschäft außer dedr Reihe verkauft wurde. Eines Tages erhielt ich im Kindergarten eine Auszeichnung: Ich durfte aus einer Art Milchkanne die Reste von süßem Quark ausschlecken. Man mußte mich nach getaner „Arbeit“ förmlich aus der Kanne herausziehen. Und Spinat wurde auf der Wiese gesammelt: Brennnessel, Sauerampfer, Schafgarbe und weiteres. Ein aufwendiges Geschäft!


Geschenke


Aufregend war für mich der Weg an Mutters Hand zum das Postamt auf der Großenhainer Straße, wenn ein Päckchen von Vater aus Ravensburg kamen oder an ihn gingen. Vor Weihnachten wurde von den Patienten aus Nüssen, Silber- und Goldpapier, Watte, Wurstpfeilern sowie Backpflaumen Weihnachtsengel und Pflaumentoffel gebastelt. Und die Päckchen enthielten noch viel mehr. Die größte "Bescherung" waren allerdings die Transportschäden. Außer Postamt lernte ich verschiedene Ecken von Dresden durch Besuche bei Bekannten und Verwandten, bei Einkäufen, durch Vorsprachen bei Ämtern, durch eine Theateraufführung am Albertplatz und eine Weihnachtsfeier im Saal der Druckerei auf der Großenhainer Straße kennen. Bei Letzterem bekam ich einen Ochsenkarren aus Holz. Nachdem mein Spielzeug verbrannt war, hatte ich nun wieder ein Spielzeug und ein vernünftiges dazu.


Lore:


Trümmerlore


Auf dem Heimweg vom Kindergarten sah ich etliche größere Kinder mit einer Trümmerlore unter großem Hallo bergab fahren. Beim fünften oder sechsten Mal wollte ich auch dabeisein. Ich kam nur mit den Ellbogen auf die Plattform, dafür mit einer großen Zehe knapp unter ein Rad. Ein größerer Junge brachte mich nach Hause. Gerade noch rechtzeitig zogen wir den Schuh aus, bevor der Fuß zu sehr anschwoll. Der vorbereitete Geburtstags-Kaffeetisch trat in den Hintergrund. Und dann ging es per Leiterwagen bzw. Fähre zum Friedrichstädter Krankenhaus. Viel wartende Menschen in einem Kellergang, aber wenig Arzt. Erster Arzteindruck: Für meinen Fall war ein Röntgenbild zu kostbar. Nach der Intervention meiner Mutter wurde ein zusätzlicher Test verordnet. Ein Arzt drückte von allen Seiten auf meinem kranken Fuß herum. Am liebsten hätte ich mich gesund gestellt. Aber die Prozedur ging bis zum bitteren Ende - immerhin mit Erfolg. Ich wurde geröntgt, gegipst und von Mutter heim gebracht.


"New York! New York!"


Eines Tages hatte ich schlechte Laune auf den Kindergarten Bischofsweg. Hier am ehemaligen Exerzierplatz waren einige Häuser zerstört, andere noch so halb nutzbar. Ich ging in die entgegengesetzte Richtung als sonst. Ich weitete mal wieder an meinem Aktionsradius aus. Ist doch positiv? Hätte ich allerdings gewußt, daß meine Mutter genau an diesem Tag neben der Heimarbeit in Form von Wärmetaschen für Nuckelflaschen sich mit Kuchenbacken beschäftigt, ja dann ... Irgendwie kam ich bis zum Ballhaus Watzke an der Leipziger Straße. Dahinter ging es steil bergab. Der Elbestrand vermittelte hier den Charme eines Ostseeurlaubes in Miniaturausführung. Hier war auch die Pieschener Fähre, über die mich vor Monaten meine Mutter per Leiterwagen zum Friedrichstädter Krankenhaus kutschiert hatte, als ich mir ausgerechnet an meinem Geburtstag den Fuß gebrochen hatte.


An diesem Teil des Elbestrandes gab es Sand, rundgeschliffene Steine unterschiedlicher Farbe, verschiedenes Getier - auch solches mit Scheren. Zu Hause war ich über Löwen u.ä. per Modelliermassetieren informiert. Die Scheren der Krebse waren mir allerdings etwas ungeheuerlich. Andere Kinder waren da etwas mutiger. Ich vergaß an diesem Ufer die ganze Welt um mich herum, kannte keine Uhrzeit, bemerkte keinen Hunger, übersah den Ernst jener Jahre. Bei den früheren Besuchen hier ging es erst heimwärts, wenn es dunkel wurde oder meine Mutter rief. Heute kam es nicht so weit. Es war herbstlicher. Andere Kinder waren am heimischen Herd geblieben. Die Spielgefährten der anderen Tage blieben also aus. Mit den Füßen im kalten Wasser herumzuplantschen, wäre wirklich keine Erbauung gewesen. So kamen andere Objekte in mein Blickfeld: die Pieschener Fähre, der Schlachthof gegenüber, die Einfahrt zum Pieschener Hafen und die Silhouette der halbzerstörten Zigarettenfabrik YENIDZE. Also machte ich mich auf, die "Welt" zu erkunden - elbaufwärts. Zuerst am Pieschener Hafen vorbei. Von den nächsten etwa zehn Kilometern fehlt mir heute jede Erinnerung. Auf diesem Weg war ich mit mir und der Welt zufrieden.


Jedenfalls stand ich plötzlich vor einem riesigem Bauwerk, nachdem ich stundenlang vor mich hin gegangen war. Die Brücken der Dresdner Innenstadt - oder was von ihnen übrig war - hatten mir nicht imponiert. Aber hier! Und offenbar hatte ich dieses Bauwerk erst bemerkt, als ich unmittelbar davorstand. Kollosal! Das mußte New York sein! Unsere Hauptmieter hatten Verwandtschaft in Amerika. Sie erhielten Päckchen aus Amerika und zeigten Ansichtskarten von New York mit riesigen Gebäuden. Wir kannten das Hochhaus am Albertplatz - später Platz der Einheit - mit seinen zehn Stockwerken. Das wurde uns noch während der Schulzeit als Wunder der Technik angepriesen. Ein Hochhaus mit zehn Stockwerken, aber hier? Für mich damals unbegreifbar! Etwas Überirdisches? Nun stand ich vor etwas Derartigem! Just in diesem Augenblick stellte mein Magen Hunger und Durst fest. Außerdem begann es zu dunkeln. Stundenlang furchtlos am Ufer entlang gegangen, aber jetzt war es mit der Furchtlosigkeit vorbei. Es müßte einen kürzeren Rückweg geben. Am Brückenkopf ging ich also zur Straße und dann bergauf. Nun war es fast ganz finster. Mir wurde klar, daß ich den Rückweg nicht mehr allein finden würde. Ich muß wohl einen erbärmlichen Eindruck gemacht haben. Auf der rechten Straßenseite war ein Fachwerkhaus, deren Bewohnerin auf mich aufmerksam wurde. Sie sprach sich mit einer Nachbarin ab und nahm sich meiner an, nachdem ich um ein Glas Trinkbares gebeten hatte. Auf Befragen klappte es mit meinem Namen, aber mit dem Straßennamen erst nach längerem Befragen, weil wir nach der Ausbombung mehrmals umgezogen waren. Schließlich ging es per Straßenbahn nach Hause. Gewiß nicht bis zum Bischofsplatz, denn da querte in etwa einem Meter Höhe ein Trümmerbahngleis. Meine Retterin brachte es meiner Mutter schonend bei. Zum Glück (oder Pech?) hatte meine Mutter genau an diesem Tag Kuchen gebacken. Retterin und Mutter veranstalteten ein Kaffeekränzchen. Mein Ausschluß davon war die Strafe für den Privatausflug zum Blauen Wunder.


Am Wilden Mann


Von unserem Wohnhaus aus einige hundert Meter bergauf, kurz vor der Autobahnauffahrt Wilder Mann ist die gleichnamige Gaststätte. Dort waren wir schon einige Male auf eine Tasse Kaffee oder eine Limonade. Eines Tages wurde dort Böhmische Blasmusik geboten. Dann hielt eine Frau eine Ansprache. Die Zuhörer wahrten perfekte Aufmerksamkeit. Dann gab es viel Beifall. Ich verstand von der Rede allerdings absolut nichts. Auf dem gemeinsamen Stück Heimweg unterhielt sich meine Mutter mit der Rednerin. Beide Frauen hatten den Vornamen Johanna und kannten sich aus früherer Zeit. Während meine Mutter als Ausgebomte Grundlagen für einen halbwegigen Haushalt mittels Heimarbeit zu schaffen sich bemühte, setzte die Rednerin ihre Kräfte für die Schaffung neuer politischer und Verwaltungsstrukturen ein.


Etwa um diese Zeit dürfte es gewesen sein, daß meine Mutter von einem wieder intakten Zeitungsvertrieb erfuhr. Damit ergaben sich neben dem Kontakt mit genannter Rednerin neue Möglichkeiten, um aktiver zu werden. Bisher ging es nur um ein "Dach über den Kopf", das "täglich Brot" und elementare Haushaltsgeräte. Meine Mutter arbeitete nun ehrenamtlich auf dem Pieschener Rathaus. Eines Tages durfte ich zu Mutters Arbeitsstelle kommen. Es war eine Art Feiertag: Es gab Kartoffeln und Quark.


In dieser schweren Zeit hatten einige neue Bonzen nichts Genialeres zu tun, als in kurzen Abständen die Grenzen der Stadtbezirke zu ändern. Die konnten offenbar nichts anderes. Aber beim Trümmerberäumen hätten sie sich schmutzige Finger gemacht. Außerdem konnte man bei dieser Gelegenheit unliebsame Parteigänger aus der Führungsriege hinausdrängen, ohne darüber in der Zeitung einen Bericht zu finden. Evt. gelang es bei solcher Gelegenheit, sich selbst oder einen guten Bekannten nach oben zu schieben. Hilfst du mir, helf ich dir!


Uns Kindern hatte es ansonsten der Wald am Wilden Mann angetan. Das Gelände bot uns unterirdische Erkundungsmöglichkeiten über waagerechte Betonröhren und solche senkrechten mit Steigeisen. Blockweise erfolgte eine Abtrennung durch schwere Stahltüren. Aber bis in das Zentrum der Anlage kamen wir nicht.


Meine Schuleinführung


1947 wurde ich eingeschult. Die Schule war unmittelbar am Wilden Mann auf der Weinbergstraße - also nur einige Häuser von unserem Zuhause auf der Wilder-Mann-Straße entfernt. Sie hatte nur einen Fehler. Die Besatzungsmacht hatte zwar angekündigt, dort auszuziehen, aber das verzögerte sich. Dadurch wurde ich provisorisch in einer Schule im Stadtteil Trachau eingeschult. Abgesehen vom Weg dorthin gab es ein Aufhebens bei mir. Trotz fast leeren Magens hob es mir das Schulessen an. Offenbar wegen Kohlenmangels wurde speziell der Essenausgaberaum nicht gelüftet. Das rief bei mir Brechreize hervor. Meine Klasse mußte die Schule mehrfach wechseln. Wir kamen sogar einmal an die Brechreizschule zurück.


Vaters Heimkehr


Im Juni 1948 saß ich in jenem Augenblick im Sandkasten, als ein Mann in Kriegsgefangenenkluft mit Riesenschritten an mir vorbei zum Hauseingang eilte. Ein zweiter Mann trug sein Gepäck. Dieser lief aber sogleich im Dauerlauf zurück. Als ich in die Wohnung kam, raunte mir meine Mutter zu, daß von jetzt an ein anderer Wind wehe, denn Vater sei angekommen. Sie mußte es ja wissen, denn sie kannte diese Natur.


Für Vater begann der Weg auf die Ämter. 37 DM Rente wurden ihm angesichts halber Füße, Kopfschuß und Rippenquetschung zuerkannt. In Ravensburg hatte er mehr Hilfsbereitschaft für die Kriegsverletzten empfunden. Das betraf sowohl die Ämter als auch die Menschen ringsum. Darum sagte er: "Mutter, pack die Koffer. Wir fahren nach Ravensburg." Meine Mutter kannte hier einige Menschen, mit denen schon hie und da eine gegenseitige Hilfe funktioniert hatte. Wir hatten nunmehr „ein Dach über dem Kopf“ und einen primitiven Satz Möbel: Bett, Tisch und Stuhl. Wie würde das im Auffanglager aussehen. Ebenso wie Vater herzu einige Wochen im Quarantänelager verbracht hatte, so würde in der entgegengesetzten Richtung sicher die gleiche Regelung gelten.


In den ersten Wochen erfüllte sich mein Vater einen lang gehegten Wunsch: Wir fuhren oft nach Moritzburg und gingen in die "Schwamme" - das erzgebirgische Wort für Pilze. Mal fuhr die Kleinbahn nicht, dann der Bus wegen der Leipziger Messe nicht. Für den Rückweg blieb dann nur übrig zu laufen. Mein Vater hatte dann trotz der guten Ravensburger orthopädischen Schuhe sein Laufpensum pro Tag abgespult. Speziell fiel es ihm schwer, den Boxdorfer Berg hinunterzulaufen. Stückenweise nahm uns das eine oder andere Fuhrwerk mit. Bei einem anderen Ausflug war das Wetter für Pilze zu trocken. Also pflückten wir in der Nähe des Fasanenschlößchens Hagebutten, woraus mein Vater Marmelade und Tee machen wollte. Trotz verletzender Kommentare meiner Mutter setzte er dies durch. Immerhin waren wir an diesem Tag trocken geblieben. Manches Mal kamen wir auch pitschnaß nach Hause. U.U. brauchten wir für den Heimweg so lange, bis es am Leib getrocknet war.


Drei Personen in einem Zimmer - Abhilfe war nötig. Im Haus gegenüber wurde eine Wohnung frei. Während auf dem Amt diskutiert wurde, zog jemand anderes schwarz ein. Pasta! Unser Arm war zu kurz, obwohl meine Eltern den Fall zuerst gemeldet hatten. Letztendlich landeten wir in Dresden-Briesnitz, gleich an der Straßenbahn-Haltestelle Schunckstraße am Bürstinghauspark. Zwei Zimmer mit Küche. Unserer Untermieterin war Küchenbenutzung eingeräumt. Diese Hochparterre-Wohnung war für meinen fußamputierten Vater kein Labsal. Also ging der Kampf um eine ordentliche Wohnung noch Jahre weiter. Wer in solcher Zeit erstversorgt war, blieb weiter auf der Warteliste ganz hinten. Kurz nach dem Einzug hatte mein Vater zu seinem 45. Geburtstag im Januar 49 seinen Freund Alex mit Frau eingeladen. Der Ofen schaffte kaum eine merkliche Erwärmung. Die Feier war im Eimer! Später half nach langen Verhandlungen mit dem Hauswirt nur ein transportabler Ofen auf eigene Kosten, der beim evt. Auszug mitgenommen werden durfte. In dieser Zeit war handwerkliches Können Goldes wert. Vorwurfsvoll bemerkte meine Mutter hin und wieder, daß mein Vater nicht mal einen Nagel in die Wand schlagen könne. Da müsse ein Fachmann her, so mein Vater. In diesen Jahren wurden Möbel aus alten Türen, Stallungen für div. Haustiere und Frühbeete auch aus irgendwelchem Stückwerk gezimmert.


Von einem anderen ehemaligen Geschäftsfreund meines Vaters erhielten meine Eltern das Angebot, am Lößnitzhang in Radebeuls bester Lage wieder ein Lebensmittelgeschäft zu eröffnen. Mein Vater wußte, was Sozialismus auf Russisch heißt. Außerdem wußte er als gelernter Finanzbeamter, was häufige Krankheit für einen Selbständigen bedeutet. Unter seinen Umständen war das Risiko schon beachtenswert. Mit Ablauf der Bedenkzeit bedankten sich meine Eltern für das Angebot.


Als ich eines Tages mit meinem Vater in einer voll gefüllten Straßenbahn stand und auf die Ruinen zwischen Bahnhof Mitte und Postplatz sah, fragte ich ihn, wie lange denn der Wiederaufbau dauern werde, ob ein, zwei oder drei Jahre? Die umstehenden Fahrgäste hatten meine Frage mitgehört und meine Naivität mit einem mitleidvollen Lächeln quittiert. Mein Vater handelte mich auf sieben Jahre hoch. Seinem Gesichtsausdruck und dem der Umstehenden war aber zu entnehmen, daß sie mich nur erfolgreich beruhigt hatten. Ihnen war wohl klar, daß sie den kompletten Wiederaufbau der Stadt wohl nicht mehr erleben werden. Immerhin war Dresdens Bausubstanz von 1944 das Werk von Generationen.


HO – volkseigene Handels-Organisation


Meine Eltern arbeiteten nach Vaters Heimkehr zuerst bei der WOP = "Waren ohne Punkte", dann bei der HO = "volkseigene Handelsorganisation". Im November/Dezember 49 öffnete das erste Dresdner HO-Kaufhaus an der Kesselsdorfer Straße. Zuweilen fiel meine Mutter abends wegen bestimmter Vorkommnisse "aus der Rolle". Eine zweite Ursache für Bludruck 180 war das Zurücklegen von Mangelwaren wie z.B. Strümpfen derart, daß für die normalen Kunden nichts übrig blieb. Letztlich gab es Parteiüberprüfungen mit einem seltsamen Ergebnis: Die alten PGs – gemeint die Partei-Genossen der Nazipartei - hatten so geantwortet, wie es vom neuen System erwartet wurde. Hingegen hie alten getreuen Mitstreiter zumeist das gesagt, was sie selbst für richtig hielten. Eigene Gedanken bedeuteten Parteiaustritt! Die waren rausgeflogen! Meine Mutter hatte neben oben Genanntem noch die Art und Weise der Vertreibung von Menschen aus dem Sudetenland kritisiert. Von der SPD war sie lautlos herübergerutscht, weil nach der Ausbombung zuerst das "Dach über dem Kopf" und das "täglich Brot" zu klären waren. Dann kamen im Bekanntenkreis mehr Gespräche auf, die sich mit Verwaltung und Aufbau beschäftigten. Bei Unterhaltungen mit anderen Menschen, die die SED verlassen hatten, gab es eine Menge Schadenfreude, weil sich die Oberen so selbst geschädigt hatten, sofern man voraussetzt, daß sie an einem Vorankommen bei der Lösung der Probleme im Lande interessiert waren.


In dieser Zeit gab es bei der HO die verschiedensten und nicht immer die besten Gründe für die Durchführung einer Inventur, die bis zum nächsten Morgen oder übers Wochenende fertig sein mußte. Zu dieser Zeit bekam die HO von der Besatzungsmacht eine Offiziersvilla auf der Heideparkstraße - nicht weit vom Schießgelände am Fischhaus.. Auch für mich war im darin entstehenden HO-Wochenvollheim ein Platz frei. So sollte ich auch im Fall von Inventuren meine Ordnung haben. Wenn Schlafruhe verkündet wurde, begannen wir mit unseren Aktivitäten: Eimersturz die Treppe hinunter, Brett auf die Tür, um das Brett dem Einlaßbegehrenden automatisch auf den Kopf fallen zu lassen u.ä.. Es war eine lustige Zeit. Wenn wir meinten, daß die Hausaufgaben fertig seien, legten wir sie der Tante vor, sie nickte ab und hinaus ging es zu denen, die es schon früher geschafft hatten. Und kurz vor dem Schuljahresende stand ich auf der Liste der Versetzungsgefährdeten. Meine Eltern besprachen das in einem ruhigen Ton mit mir, denn sie waren sich ihrer eigenen Aktien daran bewußt. Dann mußte ich aufdrehen. Letztendlich holten mich meine Eltern an die Wohnortschule und in das richtige Zuhause zurück. Die Nachmittage verliefen jetzt nicht mehr so lustig. Für einige Monate pausierte meine Mutter von der Arbeit und war Hausfrau, sodaß meine Hausaufgaben sofort auszuführen waren, kontrolliert und verbessert wurden. Und beim Wäschebügeln hatte meine Mutter stets Muse, mir das Einmaleins abzufragen. Auch andere Aufgaben ließen sich nicht auf die lange Bank schieben. Harte Sitten! Trotzdem waren auch mehr Unternehmungen möglich. Ging Mutter wieder arbeiten, war ich wieder Schlüsselkind.


Immerhin lohnte sich der ganze Aufwand. Es ging Stück um Stück bergauf. Der Aufwand wurde belohnt. Ich kann mich noch heute an die erste Mandarine, das erste Schweinsohr und die erste Tafel Schokolade erinnern.


Klassenlehrer Lemme


Herr Lemme war mein Klassenlehrer, seit wir im November 48 nach Briesnitz umgezogen waren. Er versetzte uns gedanklich oft in die Steinzeit, auf Bergtour oder in den Gartenbau. Sein Name steht als Mitautor im Reisehandbuch "Sächsische Schweiz - Osterzgebirge" des VEB F.A. BROCKHAUS VERLAG LEIPZIG 1972. Nach unserer Schulzeit war er jahrelang in der Zeitung mit einer wöchentlichen Wanderempfehlung vertreten. Als unser Klassenkamerad und späterer Baumeister Habschik - als Kind noch Chabrzik - zu seinen tschechischen Verwandten fahren durfte und darüber berichtete, wurde der sonst unpolitische Herr Lemme nachdenklich, berichtete von herrlichen Wanderrouten im Riesen- und Isergebirge sowie infolge schlimmer Geschehnisse dort von unserer Aussperrung gewiß noch für lange Zeit.


Eine Zäsur in seinem Lehrerleben brachte das ungemein gute Ergebnis des großen Schülers Beyer. Der Lehrer hatte Selbstzensur für eine schriftliche Leistungskontrolle angesetzt. Beyers Ergebnis war gegenüber sonst verdächtig gut – offenbar dank des heutigen Bewertungsverfahrens. Eine Nachkontrolle ergab zehn offensichtlich mutwillig unerkannte Fehler. Dafür gab es zehn Backpfeifen - jede mit besonderer Feierlichkeit. Das war für Herrn Lemme, der seinen Beruf mit Überzeugung ausübte, eine Einmaligkeit. Beyer, der wegen seiner Körperstärke die gesamte Klasse im Griff hatte, war einen Kopf größer als der Lehrer, ließ es aber schmollend über sich ergehen.


Bücher


Auf der Grundlage Lemmeschen EinflussesDer elterliche Bücherschrank war verbrannt. Aber mein Cousin hatte nach Konfirmation zu Ostern '45 eine kaufmännische Lehre beim MEIßNER TAGEBLATT begonnen. Seine erste Arbeitsaufgabe war die Auflösung der Bibliothek. Die Bücher mit der Spinne – dem Hakenkreuz – kamen ins Feuer, die guten brachte zur Großmutter, wo er jetzt wohnte, weil er mit seiner Pflegemutter – also meiner Tante – in deren kleinen Wohnung und mit den beiden Schwestern nicht klar kam.


Ein Brockhaus von 1936 war ein wichtiges Nachschlagewerk. Für mich war es zuerst nur Bilderbuch mit besonderer Orientierung auf besondere Brückenbauten, Lokomotiven, Hochseeschiffe, aber auch Tier- und Pflanzenarten. Nach dem Brockhaus interessierten vor allem die Bücher über die Erforschung und Kolonisierung des ehemaligen Deutsch-Südwest-Afrika und Deutsch-Ostafrika durch Carl Peters und Franz Lüderitz. Dazu kamen Reclamhefte vor allem deutscher, französischer, englischer und russischer klassischer Literatur. Bei einem Gedenkbuch für die sächsischen Gefallenen des Ersten Weltkrieges konnte ich keinen aktuellen Bezug herstellen, denn es wurde darin mittels Bildgröße und Textform in Gefallene erster und minderer Klasse unterteilt.


In diesem Alter mußte bei mir Kunst einfach schön sein. Die Leitlinie hieß also Spitzweg und Ludwig Richter, aber nicht Barlach, Käthe Kollwitz oder die Illustration zu einem Theodor-Körner-Buch. Bei meinem Cousin fand ich diverse Fremdsprachenhefte, die offenbar als Begleitung für Lehrgänge oder für das Selbststudium gedacht waren. So versuchte ich es mit Russisch. Die für die russische Schriftsprache genutzten kyrillischen Buchstaben hatte ich im Selbststudium keine Ausdauer. Aber mit Französisch klappte es immerhin mit ein paar Wörtern der Personenvorstellung und des Speisekartenstudiums.


Klassenlehrer Schlott


Er brachte uns gut durch die letzten Schuljahre. Er hatte in der Nazizeit ein Lehrerstudium abgeschlossen, aber nur in der Sparkasse eine Arbeitsstelle gefunden. Als mit der Schulreform unbelastete Lehrer gebraucht wurden, kam Herr Schlott in den Schuldienst. Er spielte mehrere Instrumente, aber sein Repertoire war sehr eingeschränkt, denn zu oft kam er auf "Im Märzen der Bauer" zurück. Zur Auflockerung ließ er zuweilen auch die Künste unseres Mitschülers Wolfgang Böhme auf das Podest, der Sohn des ersten Geigers am Operettentheater war und im Ergebnis eines strengen Regimes musikalisch mehr als der Lehrer auf dem Kasten hatte. Herr Schlott erzählte von einem Dozenten seiner Studienzeit, der vor einem Gespräch über Goethe auf das Anziehen eines schwarzen Anzuges bestand. Seine eigene Meinung war da wohl nicht weit weg. An den Wandertagen konnte er mit uns nun größeren Schülern mehr veranstalten, als es Herrn Lemme möglich war. In seiner Freizeit traf er zuweilen in Schirmers Gaststätte auf meinen Vater. Mit manchem Bier kam man sich ein Stück näher. Im Ergebnis dessen kam ich mit seiner Hilfe am vorletzten Schultag sogar zu einer akzeptablen Lehrstelle. Aber dazu später.


Lehrer Schlott ließ uns in den Pausen, sofern es keine Hofpausen waren, Schach spielen. Damit hielt er unseren Bewegungsdrang,über Tische und Stühle zu springen, in Grenzen. Ein Nachschlagen bei Makarenko führte ihn dazu, den bewegten Schüler Habschik mit der Funktion des Klassensprechers zu betrauen.


Geschichtslehrer Knorr


Das war der Mann mit den engen Röhrenhosen. Als im Unterricht die Sprache auf einen politischen Umsturz kam, kam er ins Erzählen über seine eigenen Erfahrungen mit der vorigen Diktatur. Er war SPD-Mitglied gewesen und bekannte sich auch dazu. Mit der Machtergreifung der Nazis habe er augenblicklich Schreibmaschine und Diabolo-Gewehr in die Elbe geworfen. Den neuen Machthabern sollte möglichst wenig in die Hände fallen. Er war stolz, nach der Verhaftung innerhalb von drei Tagen wieder herausgekommen zu sein. Unser Maler, ein ehemaliges KPD-Mitglied, sah das aber als offensichtliches Anzeichen für einen Verrat an. In der Haft waren wirklich viele "umgedreht" worden, sodaß der weitere Kontakt mit ihnen zur Gefahr wurde. Lehrer Knorrs Kontakt zum Dresdner Polizeipräsidenten vom Januar 1933 eröffnet uns heute etwas mehr Wissen über die Abläufe um den Tag der Machtergreifung herum. Näheres ist im Abschnitt "Familie Zocher" zu ersehen. Seine Verbindung zum Bauern Probst in Podemus führte uns in die Praxis der Landwirtschaft ein und auch zu etwas Trinkgeld. Meist waren Kartoffeln zu sammeln. Das basierte nicht auf einer offiziellen Kampagne über die Schulleitung. Übrigens: Die Tradition in der Familie Probst wird am alten Ort heute noch fortgesetzt.


Biologielehrer Liebig


Im Gegensatz zu Lehrer Knorr sagte Biologie-Lehrer Liebig nichts über Politik. Man sagte, er sei ehemals KPD-Mitglied gewesen. Obwohl er fast erblindet war, unterrichtete er noch und organisierte die Schulgartenarbeit. Einige meiner Klassenkameraden wußten bei einer schriftlichen Leistungskontrolle die Quasi-Blindheit des Lehrers zu nutzen. Allerdings schöpfte dieser trotzdem Verdacht.


Gespräche


Bei Gesprächen am Rande von Familienfeiern wurde von den Männern fast nur von den eigenen Abenteuern im Kriege erzählt. Da konnte man sich Karl May wirklich sparen. Man merkte, daß selbst bei vernünftigen Menschen Indoktrination und Korpsgeist ihre Spuren hinterlassen hatten.


Schräg über die Straße saß auffälligerweise fast täglich ein Mann mit gelb-hellbrauner Stiefelhose in dem kleinen Vorgarten und ließ sich von der Sonne bescheinen. Seine Familie kam mehr ins Gespräch, nachdem sie selbst Schnaps gepanscht hatte und wegen Alkoholvergiftung ins Krankenhaus mußte. Wer einmal ins Gespräch kommt, dessen Geschichte wird auch näher beleuchtet. Dabei kam zur Sprache, daß es sich bei dem Mann im Garten um einen ehemaligen SA-Offizier handelte, der zu dieser Zeit als Strafe nicht arbeiten durfte.


Mein Vater trug bei Familienfeiern gern mit seiner im "Arzgebarg" fundierten Musikalität bei. Viele Lieder rankten sich um den Vater Rhein oder waren von Anton Günther ("Uff de Ufenbank"). Und für meinen zehn Jahre älteren Cousin gab es Swing. Über die Rolle von Heinz Kretzschmar erfuhr ich erst kürzlich im Dresdner Kulturpalast und außerdem im Schillergarten. Damals waren Kreppschuhe die große Mode. Das politische System fühlte sich von den Sambatretern, vom Swing und der amerikanischen „Unkultur“ bedroht, verbot seine Auftritte und veranlaßte Kretzschmar indirekt zum Verlassen Dresdens. So wurde auch gern "Tschia, tschia, tscho, Käse gibt es im HO" gesungen. Das Lied wurde bei Radioübertragungen plötzlich nicht mehr gespielt. Der tiefere Sinn war wohl sogar den höheren SED-Genossen aufgefallen. Schlimmeres ging aus einem Gerichtsbericht der Sächsischen Zeitung hervor: Ein Mann hatte im Waldparkhotel ausgelassen und ohne Nebengedanken "Lilli-Marleen" gesungen. In der Zeitung hatte gestanden, daß es in der DDR keine Liedverbote gebe. Dieses Lied galt aber auch ohne Gesetz als militaristisch. Das Urteil war entsprechend.


Im Haus von uns aus gegenüber war eine Frau aus Amerika zurückgekommen, weil sie dort wegen ihrer fehlenden Sprachkenntnisse von ihrer Tochter nicht auf die Straße gelassen wurde. Hier gab es nun aber ganz andere und elementarere Probleme. Ein Zurück gab es nicht mehr. Immerhin konnte sie auch beim Einkaufen die deutsche Sprache nutzen und war trotzdem bei ihren Kindern, allerdings bei ihren Dresdner Kindern.


Wahlen:


"Demokratische Wahlen"


Als mal wieder Wahlen anstanden, wurden wir in der Schule über die demokratischsten Wahlen der ganzen Welt (natürlich außer der großen Sowjetunion, dem Vaterland aller ... weiß ich, wer alles) instruiert. Sogar der parteilose Lehrer Schlott rang sich eine kindhafte Logik ab. Ich kann über jene Wahl nichts berichten, weil mich meine Eltern nicht mitnahmen. Dann kamen meine Eltern vom Wahllokal zurück. Mein Vater hatte sich vorher darauf eingestellt und war die Ruhe selbst. Meine Mutter hatte ein hochrotes Gesicht. Sobald die Wohnungstür hinter ihr zu war, platzte es aus ihr heraus: "Das ist doch keine Wahl!" Sie hörte nicht gleich wieder auf. Unter uns war der Keller. Über uns wohnte Herr Börner, ein SED-Genosse. Sein Sohn hatte Tischler gelernt und war dann nach dem Westen "abgehauen". Ob er aus eigenem Antrieb oder in höherem Auftrag abgehauen war, wußte niemand. Selbst mir war klar, daß man lieber die Klappe hält. Meine Mutter wußte das auch. Offenbar konnte sie ob des eklatanten Wahlbetrugs und der Selbstbeweihräucherung von wegen Demokratie in jeder Zeitung sowie auf Plakaten an jeder Straßenecke einfach nicht still halten, der Protest platzte einfach aus ihr heraus.


Auf Ski


Mit Eröffnung der HO verdiente eine Verkäuferin 281 Mark. Das war noch ein relativ guter Stand, sodaß meine Eltern bald aus den allerschlimmsten Nachwehen der Ausbombung herauskamen. So fiel zu Weihnachten für mich ein Paar gebrauchte Ski mit 2,10 m Länge ab. Was gekauft wurde, sollte lebenslang halten. Mein Klassenkamerad Habschik war mein erster Skilehrer. Allerdings stufte ihn meine Mutter als "Räbchen" ein. Der Klassenlehrer betraute ihn (in Vollzug von "Makarenkos Lehren") mit der Funktion Klassensprecher zwecks Hebung seines Verantwortungsgefühls. In Sachen Sport war er die Kameradschaftlichkeit in Person. Abfahrten übten wir im Zschoner Grund gegenüber der Räuberhöhle. Von Abfahrt zu Abfahrt starteten wir von immer weiter oben. Mein erster Stemmbogen war ein Gradmesser für eine erreichte Leistungsstufe.


Eines Tages nahmen mich größere Kinder nach Altenberg mit. Es war meine erste Allein-Tour mit der Eisenbahn, allerdings unter Aufsicht größerer Kinder aus der Nachbarschaft. Von einer Urlaubstour mit meinen Eltern her kannte ich das Alte Raupennest mit Nackes Rotkappeln, einer Volksmusikgruppe, die fast nur in dieser Gaststätte auftrat. Unterhalb dessen war unser Übungsgelände. Zwischen den Bäumen hindurch hatte man ganz schön zu tun. Zeitweise war die Bahn wegen einer regionalen Meisterschaft für uns gesperrt.


Ein Fahrrad kaufte ich mir vom selbst erstrittenen Flaschengeld. Die fehlende Bereifung kostete ein Mehrfaches des gesamten Fahrrades. Stand das Fahrrad nun einmal im Keller, so sollte es auch gefahren werden. Also ließ sich mein Vater nicht lumpen. Sein Zähneknirschen war allerdings weithin zu hören. Ein Paar Rollschuhe gab es zu einer anderen Gelegenheit. Damit ging es auf die Begerburg an der Stadtgrenze zu Freital - hoch über dem Weißeritztal – heute direkt neben dem Autobahntunnel. Bei der ehemaligen DDR-Meisterin Irene Hauskeller stand Pflichtlaufen an erster Stelle. Eis- und Rollschuhlauf ergänzte sich gut mit Skilauf. Mit der einen Sportart konnte man die Saison der anderen vorbereiten. Auf der Eisbahn Rudolf-Renner­Straße brauchten wir zum Ausbüxen nur über ein Trennseil springen, um im Gedränge des allgemeinen Teiles unterzugehen. Schließlich wurden auch Stühle, Papierkörbe und Bänke als Basis zum Hochspringen genutzt.


Arbeitsgemeinschaft Metall


Ein spätheimkehrender ehemaliger Offizier hatte sich zwei Häuser neben dem Rathaus Dresden-Cotta eine Schlosser-Werkstatt eingerichtet. Für die Zwölfender der Weimarer Reichswehr war bekannterweise ein Berufsabschluß Pflicht. Für seine Rückkehr in die Heimat hatte er sich offensichtlich auf eine zivile Arbeit eingerichtet. Der jetzige private Schlossermeister hatte sich bereit erklärt, eine Arbeitsgemeinschaft unter Einsatz seiner Maschinen zu leiten. Kaum daß er einige AG-Nachmittage angeleitet hatte, wechselte er zu dem schon wieder im Aufbau befindlichen Militär, der kVP - "kasernierte Volkspolizei".


Cousins Jugendgruppe


Nachdem mein Cousin mit der Pflicht-HJ seine schlechten Erfahrungen gemacht hatte, seine Konfirmationsfeier in Diera von Uniformen und im Ort parkenden Wehrmachtsautos geprägt war, er in den letzten Kriegstagen einen Todesfall in der eigenen Familie erlebte und sein Vater nach dem Kriegsende verschollen blieb, schloß er sich einer Jugendgruppe an, die eine bessere Welt versprach. Mir sind heute noch die Namen Frieder Lehmann, "Stuß" Fröhlich und Hoyer in Erinnerung.


Mein Cousin kam zu vorher bekannten Terminen während seiner Hochschulferien nach Meißen. Dann traf sich seine Meute. Samba-Schuhe mit Porokreppsohle und Swing waren in. Es wurde gefeiert und zuweilen zuviel getrunken. Mein Cousin mußte seinen Freund Frieder eines Nachts durch Meißen führen. Die Unterhaltung war plötzlich recht einseitig, denn Frieder war weg. Mein Cousin rief nach ihm, suchte mit Streichhölzern den Fußweg ab, fand ihn nicht. Stattdessen fand er ein offenes Kellerfenster. Offensichtlich war tags zuvor Kohle geliefert worden, denn vor dem Kellerfenster lag Kohlestaub. Trotzdem kam von Frieder keine Antwort. Es war aber die einzige Möglichkeit. Eine Klingel hatte das Haus nicht. Er bemühte die Leute aus der unteren Etage. Denen gehörte dieser Keller aber nicht. Er holte die Polizei, kam in den bewußten Keller und fand Frieder schlafend auf den Kohlen.


Zu der Gruppe gehörten noch Stuß Fröhlich und Hoyer. Hoyers Mutter arbeitete in einer Betriebsküche, von deren Resten ich auch mal meinen Vorteil hatte. Außerdem bekam ich von Hoyers ein Meerschweinchen. Der Vater von Stuß war Direktor bei Teicherts. Dabei war er zuerst Parteigenosse der Nazipartei und kurz danach Genosse der SED. Meine Großmutter und ebenso meine Meißner Tante waren von ihm auf Schwäbisch angetrieben worden. Als umgelenkter Genosse war er gleich wieder Leitungskader. Der Neubau eines Einfamilienhauses auf dem Meißner Kalkberg war ihm trotz der für alle anderen schwierigen Zeit möglich. Sein Sohn konnte Oberschule besuchen, Jura studieren und Rechtsanwalt werden, obwohl es für Nicht-Arbeiterkinder allgemein Restriktionen gab.


Stuß hatte als Rechtsanwalt einen besonderen Fall zu bearbeiten: Jahrelang hatte es um den Barbetrieb in der Burgkellerbar keine Beanstandungen gegeben. Einige Flaschen Spirituosen wollten in der Nachkriegszeit erst einmal abgesetzt sein, um Umsatz, damit Handelsspanne und letztlich ihren eigenen Verdienst zu erarbeiten. Es wurde auch Leergut vollständig zurückgeführt. Bei der Abrechnung gab es sogar mehr Leergutflaschen als gelieferte Spirituosen- und Weinflaschen! Wo stammte die Differenz her? Die Frage stellte man sich in der Buchhaltung. Offenbar hatte die Bardame in der Stadt Schnaps zum Einzelhandelspreis eingekauft und auf eigene Kappe verkauft. Hätte sie vom Selbstgekauften das Leergut wieder mitgenommen, wäre nichts aufgefallen. Stuß übernahm die Verteidigung und erreichte, daß die Bardame mit einer eine Bewährungsstrafe davonkam. Die Staatsanwaltschaft glaubte, die Frau überführt zu haben, weil die neue Couch in ihrer Wohnung unmöglich aus ihrem Verdienst bezahlt sein konnte. So erinnerte man sich eines Kontaktes mit einem holländischen Besucher der Leipziger Messe. Der sei eben so spendabel gewesen. Damit war das Argument der Staatsanwaltschaft ausgeräumt und das Urteil erträglich ausgefallen. Nach der Urteilsverkündung traf man sich in der nächstgelegenen Gaststätte, um den erfolgreichen Anwalt hochleben zu lassen.


Mein Cousin schrie auch seine älteren Verwandten an, wenn die etwas seiner Meinung nach politisch Unfeines gesagt hatten. Eines Tages kam jedoch die Läuterung. Als er zum Jahreswechsel 52/53 vom Studium in Moskau auf Urlaub kam, räumte er ein, daß in Moskau etwas über die Redlichkeit Stalins gemunkelt wurde. Damals wurde bei uns Stalin an jeder Straßenecke als größter, schönster und väterlichster Staatsmann gepriesen. Wenn Träume einstürzen! Noch immer waren alle DDR-Medien eingesetzt, alle Gerüchte über Arbeitslager in Sibirien u.ä. im Keim auszuräumen. Mit seinen Gegenargumenten zu den "RIAS-Enten" war er nun vorsichtiger. Und ich brauchte fortan zwei Radiosender, um mich zu irgendeiner Frage zu positionieren.


17. Juni


An den Tagen vorher hatte ich einige besondere Tagesnachrichten vernommen. Gewundert habe ich mich nicht sonderlich, denn in jener Zeit war nach Meinung der Oberen jede Kartoffel, die vom Feld geholt wurde, eine Zeitungsmeldung wert. Am Morgen des 17. Juni war ich bei meiner Großmutter in Meißen und vernahm die Radiomeldung über den Ausnahmezustand. Ich mußte mich ohnehin auf das Fahrrad schwingen, um rechtzeitig zum Schulbeginn nach Dresden zu kommen. Vor dem Meißner Postamt stand ein Panzer. Auf der Weiterfahrt über die Dörfer Scharfenberg, Gauernitz, Niederwartha und Cossebaude keine Probleme. Unsere erste Unterrichtsstunde sollte an diesem Tag nach der ersten großen Pause beginnen. Wir blieben aber draußen - allesamt - egal wer und was die Eltern waren. Auf die Frage des stellvertretenden Direktors, warum wir nicht zum Unterricht kommen, beriefen wir uns auf die heutigen besonderen Verhältnisse. Die Lehrer wußten aber noch nicht, wie das heute ausgeht. Nachdem sich die Lehrer abgestimmt hatten, machte man uns ganz vertrauensvoll klar, daß die Aktionen der Erwachsenen nicht unsere Sache seien. Wir gaben schließlich nach. Somit fanden die weiteren Unterrichtsstunden doch noch statt. Am Nachmittag fuhren bei uns ein Panzer und ein Jeep vorbei. Wir fuhren mit den Fahrrädern hinterher. An der Autobahnbrücke Dresden-Altstadt bezogen die Panzer Stellung. Ein Wachposten sicherte diese Stellung ab. Erst an dessen Mimik merkten wir, daß es ernst gemeint war. Die Meldungen aus Dresden waren gravierender. Aber was konnte man auf weitergegebene Berichte geben? Meinen Vater hatte auf seiner Arbeitsstelle und auf dem Heimweg vor allem berührt, daß selbst die größten SED-Genossen ihren Bonbon – also das SED-Abzeichen - entfernten und am nächsten Tag wieder anhefteten. Abwarten, wie der Wind weht!


Vater als "Eintänzer"


Kamen meine Eltern von einem Betriebsvergnügen zurück, so schwelgte mein Vater noch von den vielen Anerkennungen, die er für seine kesse Sohle trotz halber Füße erhalten hatte. Nur mit den Dresdner orthopädischen Schuhen erreichte er die Leistung nicht mehr. Man gab sich Mühe für eine größere Auftrittsfläche, aber das Material erreichte nicht die Geschmeidigkeit wie bei den Ravensburger Schuhen. Beim Schachspielen oder beim Singen in einem Freitaler Chor drückten ihm keine Schuhe. Oft saßen wir im Garten eines Schachfreundes auf der Straße Vierlinden. Von diesen Leuten aus ging die Verbindung zu dem Fleischermeisterssohn, der sich unfreiwillig zum Kongopiloten entwickelte.


Fuhrunternehmen Hering


Unser Hauswirt Bruno Hering und später sein Sohn Heinz hatte ein Fuhrunternehmen mit mehreren Pferden und Wagen. So fuhr ich auf Asche- und mehr noch auf Fahrten für "Briesnitzer Mineralbrunnen" kreuz und quer durch halb Dresden mit. Einmal holten wir mit der Kutsche vom Elbhafen eine riesige Baumwurzel ab, die mein Vater als Schwerbeschädigter per Bezugsschein bekommen hatte. Meine Mutter schimpfte über diese Zuteilung. Wie sollte ein Schwerbeschädigter diese Wurzel klein bekommen? Das ging wohl auf einen Schnellschuß der Rathausleute zurück. Aber offenbar hatten sie kein Heizmaterial zur Vergabe ohne Kohlenmarken frei.


Großmutter:


Bei Großmutter


Bei meiner Mutter hieß die Devise fast immer schnell, schnell. Ohne Fleiß kein Preis! Meine Großmutter hatte wohl schon Jahre vor meiner Zeit gesagt, daß sie jenes, was meine Mutter mit den Händen aufbaut, mit dem A... wieder einreißt. Meine Großmutter hingegen hatte ihr Arbeitsleben abgeschlossen. Hier fand ich stets einen ruhenden Pol. Das galt ebenso für meinen zehn Jahre älteren Cousin. Nachdem er die letzten Schuljahre auf dem Dorf Diera nahe Meißen verbracht hatte und danach seine Lehrstelle halt in Meißen war, wohnte er bei seiner Stiefmutter und damit meiner Meißner Tante. Als die beiden aber nicht miteinander klar kamen und Großmutter zuviel und die Tante zuwenig Wohnraum hatte, zog der Cousin einfach zu Großmutter um. Und die beiden kamen miteinander zurecht. Das lag wohl auch an Großmutters Geschick. Für mich war zudem Großmutters Schrebergarten an der Zaschendorfer Straße ein wichtiges Betätigungsfeld. Für Kinder ist ein Nachahmungstrieb eine ganz normale Angelegenheit. Zudem möchte man sich nützlich betätigen. In Großmutters Wohnung gab es Zwiebelmustergedecke, Holländermuster auf umgenutzten Kaffeebüchsen, eine aus Aluminium gefeilte Ju-87, eine große Lokomotive aus Holz, ein teils gekachelter und teils gußeiserner Stubenofen, selbsteingelegte Gurken und Bohnen, selbstgemachten Johannesbeerwein, Platz für die Büchersammlung des Cousins u.v.a.m.. Gab es einmal Krach in der Sippe, so suchte Großmutter immer einen Ausgleich. Einen ausgeprägten Zwist gab es zwischen meiner Mutter und der Dresdner Tante. Meine Mutter hatte ihr etwas zum Eintauschen gegen Lebensmittel für ihre Fahrt nach Strehla mitgegeben. Dieses Städtchen ist in einer Stundenfahrt per Schiff elbabwärts zu erreichen. Nach Tantes Rückkehr war Mutters Entsetzen groß, denn das Ertauschte entsprach nicht den Vorstellungen meiner Mutter. Dies hat lebenslang das Verhältnis zwischen beiden belastet. Das war für Großmutter gleich mit ein herber Schlag. Selbst zur Silbernen Hochzeit der Dresdner Tante bekam ich von meiner Mutter keine Genehmigung zur Teilnahme. Dabei war die Dresdner Tante Lene ein sehr verträglicher Mensch. Da sie kinderlos geblieben war, war sie nach dem Krieg nicht vom Drang nach einer Wohnungseinrichtung neuesten Standards beseelt. Bei unserem ersten Besuch in ihrer Ersatzwohnung nach der Ausbombung konnte man in der Schlafstube meterbreit durch das Dach in den Himmel sehen. Als dieses repariert war und bei Haushaltsauflösungen dieses oder jenes Möbelstück preiswert ergattert worden war, investierte sie lieber in ein "Viertel Kaffee". Ihr Mann, mein Onkel Hellmut, kam relativ zeitig aus englischer Gefangenschaft heim. Er hatte sich von dort einfach verdrückt und über inoffizielle Wege sich bis Dresden durchgeschlagen. Sehr redseelig war er nicht. Er sagte mir gleich einmal als Begrüßung: "Ihr habt wohl zuhause nichts mehr zu fressen?" Dabei stand meine Tante hinter ihm und deutete mit ihrer Mimik an, das ich dieses nicht so ernst nehmen solle.


Urlaub in Kühlungsborn


Zum Beginn des siebenten Schuljahres mußten drei Freitage bei der Schule beantragt werden, falls der von der Gewerkschaft angebotene Ferienplatz in Anspruch genommen werden sollte. Die Schule stimmte dem Antrag zu. Die Reise begann für mich ungewohnt. Zum ersten Mal mußten wir vor fünf Uhr los. Mit Umsteigen bei der ersten Straßenbahnverbindung zum Hauptbahnhof war es eine riskante Sache, ob denn auch die Anschlußbahn pünktlich kommen würde. Nach Rostock gab es pro Tag nur eine in passable Verbindung. Meine Mutter zeigte bei der Bereitstellung des Zuges wahren und trotzdem fragwürdigen Heldenmut. Mir wird es heute noch übel, wenn ich mich an Mutters Aufspringen auf den einfahrenden Zug erinnere, um drei Sitzplätze zu ergattern. Für die Fahrt bis Rostock hatten wir jedenfalls dann gesicherte Plätze. Die Fahrt über Bad Doberan und dann mit dem Molly war gegen die Strecke bis Rostock ein Klacks. In Kühlungsborn wohnten wir im Bahnhofshotel. Der ganze Urlaubsschein kostete zehn D-Mark! Ich war das erste Mal an der Ostsee. Im gleichen Hotel in Kühlungsborn war ein Kraftfahrer, der mit meinen Eltern ins Gespräch kam. Er nahm uns auf seiner Heimfahrt per LKW über Heiligendamm und Bad Doberan nach Warnemünde mit. Damit hatten wir einen fachkundigen Fremdenführer. Am Beginn von Warnemünde war eine lange Kette von ehemaligen Dienstwohnungen der Heinkelwerke. Sogar an einen Bäcker extra für diese Siedlung habe man damals gedacht. Das alles für Görings Lieblingskind, die damalige Luftwaffe. Der Fährbetrieb nach Dänemark war bereits wieder aufgenommen worden. Allerdings waren nur bestimmte Fahrwege in der Ostsee für die Seefahrt freigegeben. Die meisten Flächen waren noch vermint. Beim Anblick einer aktuellen Seekarte, die die Minenfelder auswies, um die hiesigen Fischer vor einem plötzlichen Lebensende auf See zu bewahren, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Unvermint bzw. schon beräumt waren nur strandnahe Bereiche sowie die Fahrrinnen zwischen den Häfen. Wir besuchten die Warnemünder Mole und gingen von dort aus landeinwärts. Zuerst gingen wir an Fischerbooten und kleinen Grogschmieden vorbei. Dann kamen 30.000 bis 50.000t-Schiffe auf der Helling aus der Reihe Hansa, von denen in unserer Zeitung nichts stand. Es waren versenkte deutsche Schiffe, die man gehoben und hier auf Helling gesetzt hatte und mit einfachen Mitteln als Reparationsleistung herrichtete. Obwohl Fotografieren strengstens untersagt war, hielt ich einmal mit meiner Box auf eines dieser Objekte.


Mein Vater brachte mir in Kühlungsborn Stück um Stück das Schwimmen bei. Immerhin begann gleich nach diesem Urlaub der schulische Schwimmunterricht im Hebbelbad. So kam ich – wenn auch mit knapper Mühe – bereits von Beginn an in die Schwimmergruppe.


Reparationen


Als Reparationen waren nicht nur diese Hochseeschiffe an die Sowjetunion zu übergeben. Auch fast alle Zweit-Gleise bei der Reichsbahn gehörte dazu. Als man merkte, daß demontierte Betriebe am Zielort nicht wieder in einen funktionsfähigen Zustand zu bringen waren, führte man bei den bisher noch nicht demontierten Betrieben die Produktion am alten Ort mit deutschen Fachkräften fort - als sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaften. Einige Betriebe dienten offenbar auch der Versorgung der sowjetischen Besatzungstruppen. DERUNAFT war ein Beispiel dafür. Es war die einzige Möglichkeit für die Bereitstellung von Kraftstoffen. Immerhin muß man bei dieser Betrachtung berücksichtigen, was deutsche Truppen insbesondere auf ihrem Rückzug in der Sowjetunion zerstört hatten. Allein der erste Tag des Überfalls kennzeichnete den ganzen Feldzug als Raubzug.


Auf dem Bauernhof


Meine Großmutter fuhr zuweilen auf den Bauernhof unserer Priestewitzer Verwandten Schoop. Die Bewirtschaftung erfolgte allein durch zwei Frauen. Der Sohn hatte seine TBC einigermaßen überstanden, mußte aber trotzdem öfter zur Behandlung und durfte sich keinen großen Anstrengungen unterziehen. Das Gut hatte 12 ha Nutzfläche, 12 Kühe, etwa zehn Schweine und ein Pferd. Der Gutshof war modern eingerichtet.: eigene Dresch- und Schrotmaschine, Fließband-Aufzug für Strohballen, automatischer Kartoffeldämpfer und eine Art Schwebebahn, mit der man Mist vom Stall mittels eines Fußtrittes zum Misthaufen beförderte. Eine Strohpresse von der Ausleihstation MTS = Maschinen- und Traktorenstation konnte bei Bedarf an die Dreschmaschine mit Seilen angekoppelt werden. Meine Großmutter war bereits mit solchen Arbeiten, die ihrem Alter entsprachen, eine willkommende Hilfe. Auch Flicken von Säcken fand sie Anerkennung. Ihre Schwester Ida – die Caspar-Tante - agierte trotz ihrer 80 Jahre mit echter Bauernarbeit bis sie ... unter die Räder kam. Die Pferde hatten angeruckt, als sie auf den Kutschbock steigen wollte. Das hatte eine mehrmonatige Auszeit zur Folge. Ihr Mundwerk war von dem Unfall nicht betroffen. Und auf die Beine kam sie nach einigen Monaten auch wieder. Jedenfalls gab es für den Einsatz auf Schoops Gut in Priestewitz Mehl, Eier, frisches Blut für leckere Tiegelwurst u.ä.. Großmutter wußte das gut zuzubereiten - auch zu meinem Vorteil.


Als ca. 13-jähriger fuhr ich auch zwei Male allein nach Priestewitz. Am ersten Tag war gerade ein Gewitter im Anzug. Alle Mann ran, die Strohpuppen möglichst alle noch aufladen! Bis auf einen minimalen Rest brachten wir gerade noch die letzte volle Fuhre trocken in die Scheune. Der kleine Rest war beim besten Willen nicht mehr schaffbar. Beim Einbrechen der Dunkelheit ging es jeden Abend zu den Fersen auf die Weide zum Tränken. Am Heimfahrtstag bekam ich Gurken, Eier u.ä.. Die Eier wurden ordentlich in Zeitungspapier eingewickelt und in den Koffer gesteckt. Trotz vorsichtiger Fahrweise stürzte der Koffer in der Nähe von Moritzburg vom Gepäckträger ab. Daß trotzdem einige Eier ganz blieben, stellten wir dann zu Hause beim Auspacken mit Freude fest. Auf dem Umweg über meine Großmutter fragten die beiden Frauen an, ob Schoops mich in Pflege nehmen könnten. Aber meine Eltern wiesen das Ansinnen ab, wobei die Ursache für diese Fragestellung meinen Eltern verständlich erschien.


Der Student von Moskau


Nicht der von Upsalla! An den ersten Tagen in Moskau war für meinen Cousin das Russisch-Verständnis noch so schlecht, daß er während der Vorlesung Briefe schrieb. Er schrieb mit Begeisterung über die Moskauer Metro, über die Volkswirtschafts-Ausstellung, über kaukasische Nationalitäten-Gaststätten. Zu jedem Semesterende wurde es zur festen Gewohnheit, daß Großmutter anfragte, was sie ihm zum Empfang zubereiten solle. Jedes Mal war die Antwort: Roulade.


Angefangen hatte das Ganze mit der Delegierung zur ABF – einer Bildungseinrichtung, deren Aufgabe es war, Berufstätigen durch ein dreijähriges Direktstudium vom Achtklassen-Abschluß zur Hochschulreife zu verhelfen. Man organisierte ein Gespräch mit Martin Andersen Nexö, dem dänischen Autor von „Pelle der Eroberer“. Dieser Roman beschreibt das Leben eines kleinen Jungen aus einfachsten Verhältnissen, der sich einen Platz in der Welt erkämpft. Ein anderes Gespräch führten die Studenten mit Max Seydewitz, jenem SED-Funktionär, der sich SPD-seitig zur Unterschrift für die sogenannte „Vereinigung“ mit der KPD bereitgefunden hatte, jedoch infolge der KZ-Haft gesundheitlich derart beeinträchtigt war, daß er sich bevorzugt in Einrichtungen aufhielt, die der Wiederherstellung seiner Gesundheit dienen sollten. In dieser Zeit kam mein Cousin etliche Male bei uns zu Besuch. Eine Partie Schach mit meinem Vater, ein Abendbrot und ein kleiner Kredit standen dann auf dem Programm. Nach dem ersten Jahr entschied er sich für die Spezialisierung Gesellschaftswissenschaften. Immerhin hatte ihn Großmutter auf Sprachen orientiert. Die dafür fachlich zuständige ABF war in Greifswald. Folglich studierte er im zweiten Studienjahr in Greifswald, der Stadt, die bei Kriegsende von Oberst von Petershagen kampflos an die Rote Armee übergeben worden war. Und ein Besuch in der dortigen Brauerei – Umtrunk eingeschlossen – gehörte dazu. Zum Fachstudium der Staatswissenschaft ging es nach Potsdam-Babelsberg und von dort nach speziellem Sprachkurs nach Moskau an die Lomonossow-Universität. Unter seinen Kommilitonen waren etliche, die später in den „sozialistischen“ Staaten verantwortliche Stellen in den Außenministerien und Botschaften einnahmen. Er spezialisierte sich auf Lateinamerika. Er verliebte sich in eine Mitstudentin aus dem Moskauer Randgebiet, aus Goljöwo. Er kam auch mit Nachbarn seiner späteren Schwiegermutter ins Gespräch. Wenn irgend etwas halbwegs mit Unsicherheit Behaftetes über Berlin in der Zeitung stand, kamen einige zu ihm, um sich über die Relevanz für die Sicherheit eines in der DDR stationierten Verwandten zu erkundigen. Zu tief war der Name Berlin mit dem Tod vieler Verwandter und Bekannter verbunden. Sie waren zu jedem Blankoscheck an ihre Generäle bereit, wenn es nur an dieser Stelle der Welt ruhig blieb.


Anträge auf Besuch der Oberschule


Meine Eltern hatten den festen Willen, sich wieder eine ordentliche Wohnung anzuschaffen. Darum war zumindest vorerst der Besuch der kompletten Oberschule für mich ausgeschlossen. Was aber der Großvater meinem Vater ermöglicht hatte – den Realschulbesuch, das wollte mein Vater auch mir ermöglichen. Das paßte auch zu meinem Leistungsbild in der Schule. Ich war keinesfalls ein As in allen Fächern. Aber im Fach Mathematik habe ich zuweilen unseren Lehrer Schlott ins Schwitzen gebracht. Und im letzten Semesterabschluß zog ich gar noch mit dem Klassenkameraden Manfred Fritzsche im Fach Physik gleich. Also sahen wir es als gerechtfertigt an, einen Antrag für den Besuch der Zehnklassenschule zu stellen. Ablehnung wegen Sportnote Vier. Mein Vater legte Widerspruch ein, weil bei einer gesicherten Teilnote Eins im Schwimmen nie eine Gesamtnote Vier herauskommen konnte. In der Antwort wurde die Argumentation meines Vaters keines Wortes gewürdigt. Die gesellschaftliche Arbeit sei zu schlecht. Meine Mutter schaffte Quittungen für die Schrottabgabe herbei. Was soll es, die wollten einfach nicht. Mein Vater hatte im Jahr zuvor auf einem Formular angegeben, daß er Lebensmittelhändler gewesen war und jetzt (mit seinen halben Füßen!) Buchhalter sei. Er hätte auch Landwirt hinschreiben können, da er diesen Beruf auch erlernt hatte. Nachdem in das Formular „Lebensmittelhändler“ eingetragen war, konnte man nur sagen: Pech gehabt! Es war einerlei,ob ich nun als Kapitalisten- oder als Angestelltenkind galt, jeder Einspruch wurde abgeschmettert. Die Parteilosigkeit meiner Eltern konnte ganz gewiß auch nicht helfen. Die Zeit verging. Also kam die Bewerbung für eine Lehrstelle auf den Plan.


Lehrstelle


Als Alternative zur Oberschule gingen wir zu Zeiss-Ikon zwecks Bewerbung zum Feinmechaniker. Die Ablehnung hier war nicht so eindeutig gezinkt wie vorher, denn der Andrang war groß und dieser Beruf in Dresden damals sehr beliebt. Inzwischen lief die Zeit davon. Einen Lehrvertrag als Maurer bekam ich auch im April noch. Ob das mit meinen vormaligen Mittelohrentzündungen vereinbar war, mußte sich erst noch herausstellen. Und wie ich mich in einer solchen Maurer-Berufsschul-Klasse als Einzelkind hätte durchsetzen können, müßte die Zukunft zeigen. Immerhin konnte ich mich mit dem Gedanken des späteren Besuchs einer Fachschule für Bauwesen anfreunden. Der Bruder von Onkel Alex – einem früheren Geschäftsfreund meines Vaters – hatte diesen Weg über Berufspraxis und Fachschule beschritten. Er lebte jetzt in Amerika – offenbar recht gut. Es kam eine andere Lösung: Am vorletzten Schultag winkte mich mein Klassenlehrer Schlott, der parteilos war und mit meinem Vater zuweilen ein Bier getrunken hatte, aus dem Zimmer und riet mir, auf dem kürzesten Weg nach dem Industriegelände zu fahren. Dort gebe es so etwas wie Lufthansa – oder so ähnlich. Na, ich wisse schon. Während der Arbeitszeit waren im Industriegelände nur wenige Menschen auf der Straße anzutreffen. Und die wenigen fragte ich nacheinander. Einer nach dem anderen sah mich schief an, weil darüber noch nichts in der Zeitung gestanden hatte. Geheim! Die Junkers-Spezialisten wähnte man in der Sowjetunion. Darüber sprach man lieber nicht – zumindest nicht auf der Straße. Beim X-ten klappte es dann doch. Er nahm mich ein Stück auf seinem Weg mit und zeigte dann auf eine ungekennzeichnete Tür. Dort wurde ich freundlich empfangen. Um diese Zeit kamen die in der Sowjetunion abkommandierten Flugzeugfachleute zurück. Man baute ein Werk auf, nicht in Dessau, wo Junkers mal ansässig war, sondern in Dresden – und damit in der Nähe der Technischen Universität Dresden. Eine Werkhalle wurde vom Elektromotoren herstellenden Sachsenwerk für den IL14-Rumpfbau requiriert. Im Flughafengelände wurden zwei Hangars der ehemaligen Luftkriegsschule, die zwischenzeitlich die Rote Armee genutzt hatte, für den Tragflächenbau und für die Flugerprobung bereitgestellt. In Leipzig-Schkeuditz wurden nachfolgend die Leitwerke gebaut. Eine große Werkhalle für die Endmontage wurde neu gebaut. Und der Triebwerksbau wurde in Chemnitz angesiedelt. Irgendwie bekam man alle benötigten Komponenten zusammen. Und Lehrlinge gehören auch zu einem ordentlichen Betrieb. Als ich nun vor dieser Entscheidung stand, sagte ich aus "gesundheitlichen Gründen" dem Baukombinat ade und unterschrieb den Lehrvertrag zum Metall-Flugzeugbauer.


Meine Meißner Cousine wollte ursprünglich Friseuse lernen. Noch mitten in den Sommerferien gaben wir ihr den Rat, sich um den gleichen Lehrbetrieb zu kümmern. Sie entschied sich für eine Dreher-Lehre und nahm damit den langen Anfahrtsweg von Meißen nach dem Dresdner Industriegelände bzw. später dem Flughafen in Kauf. Wegen der moderneren Maschinen hier gegenüber allem, was ihr in Meißen geboten wurde, blieb sie bis zum Schritt in die Rente diesem Betrieb treu.


Schulabschlußfeier


Nach dem letzten Schultag fand die Abschlußfeier im Ruderklubhaus zwischen Bahnhof Dresden-Cotta und Elbe statt. Dies war unweit der Mündung der Weißeritz in die Elbe. Geschniegelt und gebügelt betraten meine Eltern und ich das Restaurant. Im Vorbeigehen wurde mein Vater am Tresen von einem Freund angehalten, sodaß er ein paar Minuten später an unseren Tisch kam. Es wurde ein nettes Programm geboten. Der Zauberkünstler brauchte jemand, der beim Spielkartentrick half. Mein Vater meldete sich. Den Trick verstand ich allerdings nicht. Auf dem Rückweg zu seinem Platz wollte mein Vater zur Uhr sehen. Die war aber weg. Meinem Vater war ein Erschrecken anzusehen. Der Zauberer löste das Problem, indem er zum gleich in der ersten Reihe sitzenden Schuldirektor ging , der mir die neunte Klasse vermiest hatte, bat ihn aufzustehen und holte ausgerechnet aus seiner Jacketttasche Vaters Armbanduhr heraus. Der Schuldirektor stand mit hochrotem Kopf im Raum und fühlte sich erwischt. So sieht die Rache des kleinen Mannes aus!


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